Heft 
(2022) 113
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Fontane und das Boulevardtheater  Parr 77 positiven und negativen Bereich unterschieden sind, sodass sich eine mitt­lere Zone von positivem Realismus und ebenso positivem Idealismus ergibt, ein Juste Milieu, in dem am Ende des Stücks die gesamte Familie Werwein/ Knorr mit nur geringen Abstufungen untereinander platziert ist und so die real-idealistische deutsche Diskursposition nach 1866 einnimmt. Allein Löwenberg steht als harter, kalter, praktischer, rücksichtsloser Kalkül-Cha­rakter weiterhin für ein jüdisches Stereotyp, das konnotativ mit einem nur an wenigen Stellen thematisierten amerikanischen zusammenfällt. Unbe­setzt schließlich bleibt die alte, romantisch-deutsche Diskursposition, wenn seine philologische Schwärmerei den Professor Knorr auch bedenklich nah an sie heranrücken lässt. Eine Aufführung des Stücks im Königlichen Schauspielhaus in Berlin fand am Sonnabend, dem 7. März 1874 statt und wurde drei Tage später vom Rezensenten der Vossischen Zeitung besprochen. Dieser begrüßte zu­nächst die Idee des Stücks. Der»amerikanische Onkel« sei zwar»nicht neu auf der deutschen Bühne«, neu aber sei» dieser Onkel, der, deutsch -idealis­tisch wie er hingegangen, auch deutsch -idealistisch« wiederkehre, um das »mittlerweile realistisch gewordene Völkchen[] zum Idealismus zurück­zubekehren«.»Dies ist neu und, was mehr werth ist, auch gut dazu.« 58 Der Kritiker konstatiert für die Aufführung selbst dennoch eine gewis­se Missstimmung im Publikum. Seine Antwort auf die Frage nach den Gründen lautet: Das Stück sei als» Charakter-Lustspiel« angelegt, sodass eigentlich alle Handlungen konsequent aus den Charaktermerkmalen der Personen motiviert sein müssten, es sei aber als bloßes»Scherzspiel[]« durchgeführt worden.»Der Herr Verfasser« habe sich,»darin der Mode nachgebend, viel viel häufiger die Frage vorgelegt: ›wirkt es komisch? als die Frage: ›ist es wahr?.« 59 Man erwarte so Fontane eine Figur, die»ih­rerseits den Idealismus repräsentiren soll«, bekommt aber»eine Gestalt«, die»nicht Fisch nicht Vogel ist«.»Er spielt den Gemüthlichen, aber mit einer Verwegenheit der Mittel, um die ihn ein New-Yorker Rowdie beneiden könnte«. 60 Entsprechend positiv empfindet Fontane nur die beiden als ›wirkliche Idealisten‹ platzierten Figuren: den Maler Edmund Wastl, der zwar zunächst»Kunst Kunst sein läßt, bis diese« sich gegenüber Geld und Heirat»doch wiederum als die mächtigere erweist«, und den Gymnasial­Oberlehrer Emanuel Knorr,»bei dem die wie ein Fieber über ihn gekomme­ne Liebe zum Gelde, der alten Leidenschaft zu Büchern und Grammatik­schreiben am Ende doch wieder unterliegt«. 61 Stehen in Wicherts Stück ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ als diskursive Po­sitionen, welche handelnde Figuren einnehmen können, also in Opposition zueinander und liegt die Auflösung des Gegensatzes tendenziell in einem synthetisierenden ›Real-Idealismus‹, so trennt Fontane in Frau Jenny Treibel ganz in Fortführung seiner Theaterkritik von 1874 beides auch zu Beginn der 1890er-Jahre zunächst noch, und zwar auf zweifache Weise. Erstens