78 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte wird zu Beginn des Romans die synchrone Personenkonfiguration von Wicherts»Realisten« auf die diachrone Abfolge zweier Generationen verteilt: die ›ideale, poetische‹ Jugendzeit der Krämerstochter Jenny Bürstenbinder und des Kandidaten der Philologie Wilibald Schmidt um 1850 auf der einen Seite und die ›realistische‹ Jetztzeit der kaum vorhandenen Romanhandlung zu Beginn der 1890er-Jahre auf der anderen. Damit kann Fontane eines der wichtigsten Elemente realistischen Schreibens einlösen, nämlich das Erklären des Geschehens in der Gegenwart aus Zusammenhängen der Vergangenheit. Zweitens gibt es in der Generation von Jenny und Wilibald keine Figur mehr, die im Sinne einer umfassenden Synthese ›real-idealistisch‹ zu nennen wäre. Jenny Treibel kann zwar ebenso lustvoll in ›idealen‹ Jugenderinnerungen mit Rezitation gefühlsbetonter Goethe-Verse schwelgen wie auch mit hart durchgezogenem Realismus die Frage der Verheiratung ihres Sohnes regeln, 62 aber – und dies ist der wichtige Unterschied zu Wicherts Onkel Roderich – sie nimmt diese Positionen stets nur alternierend ein, integriert sie aber nicht. Soeben noch das poetische, lyrische und musikalische Ideal lobend, führt sie im nächsten Moment die realistischsten Kalküle gegen Corinna durch, die ihrerseits bei den Konversationsessen im Hause Treibel als Repräsentantin bürgerlich-idealer Bildungswerte fungieren soll, sich dann aber ganz als der schon zu Beginn des Romans konnotierte Kalkül-Charakter 63 entpuppt. Was den Pol des ›Realismus‹ angeht, markiert Corinnas ›Modernität‹ 64 dabei einen graduellen Unterschied gegenüber Jenny. Darin ist sie – noch einmal mit Rückblick auf die Konfiguration des Wichert´schen Stücks betrachtet – eine schwesterliche Nachfolgerin von Julie Werwein zu Beginn von dessen Stück, 65 eben eine ›moderne Realistin‹. Im Verlauf des Fontane ’schen Textes kommt für Corinna dann aber der ›Idealismus-Pol‹ durch die Heirat mit Marcell wieder stärker ins Spiel, sodass sie die einzige Figur ist, die gegen Ende des Romans eine tendenziell integrierende real-idealistische Position einnehmen kann: bürgerliche Heirat mit ›Herz‹ innerhalb der eigenen sozialen Schicht, aber erst in dem Moment, in dem Marcell eine Anstellung gefunden hat. 66 Aus der Typologie von ›negativ gewertetem(überzogenem) Realismus‹/›positiv gewertetem (gutem) Realismus‹/›positiv gewertetem(gutem) Idealismus‹/›negativ gewertetem(nicht wahrem) Idealismus‹ wird mit Corinna die gleich doppelt positiv konnotierte Position der beiden mittleren Glieder besetzt. Unterstrichen wird das dadurch, dass Marcell, die Schmolke und durchaus auch Corinna selbst ihre Verlobung als letztendlichen Sieg des Herzens und damit des Idealismus wahrnehmen und Wilibald Schmidt von einer Rückkehr zur Vernunft spricht, die aus dem Herzen käme. Alle diese Charakterverschiebungen von Corinna, die Verkennungen und das letztendliche Ankommen auf dem ›richtigen‹ Platz sind strukturelle Anleihen, die Fontane bei der Qui pro quo-Struktur des populären Lustspiels macht und die – ein solches
Heft
(2022) 113
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten