Fontane und Gabriele Tergit Sill 101 ›Die weisen Augen des Theodor Fontane. ‹ Textbezüge zwischen dem Werk Theodor Fontanes und Gabriele Tergits Familienchronik Effingers(1951) Oliver Sill »Was für ein Frühlingstag, dieser Sonnabend im Mai des Jahres 1948!« 1 Diese Worte bilden den Auftakt zum»Epilog« eines Familienromans aus dem Jahre 1951, dessen späte Wiederentdeckung das vielleicht wichtigste literarische Ereignis des Jahres 2019 gewesen ist: Effingers von Gabriele Tergit . Unbeirrt schreitet die Zeit weiter voran, blühen auch in diesem Frühling die»roten Kastanien«, spielen»glückliche, neue Kinder« 2 . Die Trümmer ringsum aber sind nicht zu übersehen. Sie sind die schweigenden Zeugen einer untergegangenen Welt. Auch die Berliner Tiergartenstraße, einst»die Via Sacra des christlichen und jüdischen Reichtums« dieser Stadt, liegt noch immer»in Schutt und Asche«.»Nur der alte Fontane«, heißt es dann aber einschränkend, nur»der alte Fontane aus weißem Stein, den Mantel über der Schulter, der war stehengeblieben und sah mit weisen Augen auf die Trümmer.« 3 Dass das von Max Klein ausgeführte Denkmal, am 7. Mai 1910 feierlich eingeweiht, die zahllosen Bombardements und Straßenkämpfe der letzten Kriegsmonate unbeschadet überstanden hat, ist wohl dem bloßen Zufall zu verdanken. Hier aber erlangt dieser Sachverhalt durchaus sinnbildliche Bedeutung. Denn das Denkmal vermittelt zwischen der unwiederbringlich zerstörten Vergangenheit einer Stadt, die viele Jahre zuvor auch einmal die Stadt Theodor Fontanes gewesen ist, und einer noch unbestimmten Zukunft, die aus den Trümmern der Vergangenheit entstehen wird. Dabei ist es zweifellos der Romancier Fontane , dem in Gabriele Tergits Roman diese eingeflochtene Referenz, diese stumme Verbeugung gilt. Von seinem erhöhten Standort aus überblickt der aus einer anderen Zeit stammende Erzähler Fontane nun die Trümmerlandschaft der Gegenwart. Zugleich aber erscheinen seine»weisen Augen« wie ein Versprechen auch an zukünftige Leserinnen und Leser, durch die Lektüre seiner Werke sich selbst und die Welt besser zu verstehen. Und noch ein Drittes kommt hinzu. Denn Gabriele Tergits vier Generationen umfassende Chronik zweier jüdischer Bankiersfamilien nimmt ihren Auftakt im Jahre 1878 und widmet sich in aller Detailliertheit
Heft
(2022) 113
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