Fontane und Gabriele Tergit Sill 109 Mutter in die materielle Sicherheit ihrer Vernunftehe mit dem Fabrikmeister Gideon Franke. Käte Winkel aber eröffnet sich ein anderer Weg. Denn berührt durch den Schmerz ihrer Schneiderin, aber auch überzeugt von deren fachlichen Fähigkeiten, nimmt Eugenie Goldschmidt»zwei Tausender aus ihrem Toilettentisch« und schenkt sie Käte – als Startkapital für die angestrebte berufliche Selbständigkeit:»›Das ist ja – was soll ich sagen!‹ schrie Käte Winkel./ ›Nehmen und damit Geld verdienen.‹/ ›Ach, so viel Güte, so viel Güte.‹« 46 Wie ihr Gatte, der den Ruf hat,»sehr wohltätig« 47 zu sein, beweist auch Eugenie Goldschmidt hier gewiss ihre Güte. Das ist aber nicht alles. Denn sie ahnt, wer Kätes ehemaliger Liebhaber ist – und beugt mit dieser Wohltat möglichem rufschädigenden Ärger vor. Und schließlich bedeuten ihr zweitausend Mark wirklich nicht viel. Bevor sie sich wieder der Anprobe zuwendet, bemerkt Eugenie Goldschmidt noch:»Mein Mann hat gesagt, die Kinderlose hat die meisten Kinder, und für die muß man sorgen, also geb’ ich dir immer ein Bündel Tausender, über das wir nicht reden und das wir nicht verrechnen wollen.« 48 Damit ist die Sache erledigt, nicht mehr der Rede wert. Die 1880er-Jahre sind, wie bereits erwähnt, gute Jahre für das Bankhaus Goldschmidt& Oppner. Es ist der Anschein großen Glücks, von dem sie ausgeschlossen sind, der sowohl Lene als auch Käte nach der zufälligen Begegnung auf der Straße in tiefe Verzweiflung stürzt. Was Lene nicht weiß und nie erfahren wird, ist die Kehrseite eines Lebens mit Käthe von Sellenthin, die eben nicht nur in dieser Szene, sondern eigentlich immer»lebhaft« spricht über»lauter heitre Dinge« 49 .»[...] Käthe lachte nach wie vor« 50 , heißt es nach einem Zeitsprung von zweieinhalb Jahren – und der Erzähler ergänzt einige Seiten später:»Eigentlich führte sie das Wort und keiner nahm Anstoß daran, weil sie die Kunst des gefälligen Nichtssagens mit einer wahren Meisterschaft übte.« 51 Für Käthe ist letztlich alles»zu komisch« 52 , während Botho darin den Ausweis einer Oberflächlichkeit erblickt, die er allenfalls im stillen Selbstgespräch kommentiert:»Es ist alles so angeflogen, so bloßes Gesellschaftsecho.« 53 Stets darauf bedacht, durch»liebenswürdige Koketterie« 54 zu gefallen, aber wohl auch intellektuell überfordert, zeigt sich Käthe insbesondere dann, wenn es um Kunst und Kultur geht.»Wenn Käthe kulturhistorische Betrachtungen anstellt«, denkt Botho im Stillen,»übertrifft sie sich selbst.« 55 Um sich»mein bischen Glück und meinen Ehefrieden« 56 zu bewahren, lässt Botho seine Frau gewähren,» doch gebunden« 57 bleibt sein Herz an Lene. Auch Annette Oppner ergeht sich in nichtssagenden, allein sie selbst charakterisierenden Phrasen. Für sie ist alles»entzückend« 58 – nicht weil ihr alles gefällt, sondern weil sie glaubt, dass dies von ihr erwartet wird. Geht es um Kunst, um ein Gemälde oder eine Komposition, steuert Annette, »klug genug berechnet« 59 , ihren Standardsatz bei:»Es ist von eigentümlichem Reiz der Behandlung.« 60 Die erhoffte Wirkung auf die anwesende
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(2022) 113
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