Fontane und Gabriele Tergit Sill 113 zurück und sagte: ›Stine ! Bist Du toll, Junge?‹« 85 Theodor Oppner wendet sich zunächst an seinen Vater:»Ich will mich nämlich verloben.« Und als dieser erfährt, dass es sich um Wanda handelt, wiederholt sich die Szene aus Fontanes Roman nahezu wörtlich:»Emmanuel sprang auf.[...] ›Ich kann dich nur fragen: Bist du verrückt?‹« 86 Beide, Waldemar von Haldern und Theodor Oppner, scheitern in dieser Unterredung auf ganzer Linie. Und auch die andere Unterredung, dort mit dem alten Baron als Freund des Hauses, hier mit Onkel Waldemar Goldschmidt, verläuft enttäuschend. Immerhin wird ihnen hier mehr Verständnis entgegengebracht.»[...] ich freue mich immer, wenn einer die Courage hat, den ganzen Krimskrams zu durchbrechen« 87 , bemerkt der alte Baron, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand. Und Onkel Waldemar hat ebenfalls diese»Courage« im Blick, wenn er seinem Neffen zu verstehen gibt:»Wenn du glaubst, stark genug zu sein, um außerhalb dessen, was man die Gesellschaft nennt, zu leben, so mußt du es tun.« 88 Aber Zuspruch und Ermutigung erfahren beide letztlich nicht. Waldemar von Haldern stirbt an einer Überdosis Schlafmittel, nachdem er all seine Hoffnungen auf eine Zukunft mit Stine hat begraben müssen. Davon ist Theodor allerdings weit entfernt. Er reist zunächst nach England, um anschließend ins»Bankgeschäft« 89 einzusteigen. Obwohl sie im Rahmen des Handlungsverlaufs eine vergleichbare Funktion erfüllt, ist Wanda doch weit mehr als Kontrastfigur zu Stine angelegt. Stine ist, was Pauline Pittelkow ihrem entrüsteten Grafen entgegenhält: »Mein Stinechen ist kein Mächen, das sich an einen hängt oder mit Gewalt einen rankratzt, Graf oder nich, un hat’s auch nich nötig. Die kriegt schon einen. Is gesund un propper un kein Unthätchen an ihr, was nich jeder von sich sagen kann.« 90 Wanda dagegen, das»freche Mädchen«, kratzt sich durchaus an Theodor heran, um Geld zu verdienen. Mit den Worten»Ruh dich aus« gibt er ihr nach dem ersten Stelldichein»ein Goldstück«. –»Der Dämel!« denkt da allerdings Wanda und wartet,»bis er außer Sicht war. Zwanzig Mark war viel Geld, aber wie lange war man jung?« 91 Aufgewachsen im noblen Tiergartenviertel, weiß Theodor nichts von den rauen Sitten im Prostituiertenmilieu des Berliner Ostens. Und so glaubt er natürlich auch, das Kind in Wandas schwangerem Leib sei»sein Kind«. Dem muss aber gar nicht so sein, erfahren wir aus einem Dialog Wandas mit Auguste aus der Nachbarschaft. Denn Theodor ist für Wanda letztlich nur ein willkommener Goldesel; ihre Liebe hingegen gehört»Plinker-Emil«, weil er»so ein schöner, starker Mann« ist.»Na, von wem is denn das Kind?« stellt Auguste die durchaus berechtigte Frage.»Weiß ich doch nich«, so Wandas Antwort, hab’ doch mit beide Verkehr gehabt.« 92 Das aber darf Theodor keinesfalls erfahren, denn Wanda spekuliert auf»eine Abfindung« 93 . Dass diese Hoffnung nicht unberechtigt ist; ja, dass es im Kaiserreich jener Jahre durchaus üblich war, im Falle einer Schwangerschaft das Verhältnis mit einer Abfindung zu beenden, erfahren wir auch aus Fontanes Roman Stine.
Heft
(2022) 113
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