112 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Toten zu beklagen. Denn der sich abzeichnende Konflikt wird schließlich mit Geld gütlich beigelegt. Theodor, der sich als feinsinniger»Bohemien« 77 begreift, glühender Bewunderer Henrik Ibsens ist und voller Verachtung auf das Treiben rund um seine Schwester Annette blickt, liebt die Literatur und das Theater, aber mehr noch liebt er die gefeierte Sängerin Susanna Widerklee. Sie aber ist für ihn unerreichbar. Trost wiederum findet er bei Wanda Pybschewska. Kennengelernt hat er sie zwei Jahre zuvor, als er nach vergeblichem Warten am Bühneneingang der Oper verzweifelt durch die Straßen des Berliner Ostens lief: Ein freches Mädchen sprach ihn an, zog ihn in einen kleinen Laden, vor dessen verhängten Schaufenstern eine rote Laterne brannte. Weinstube von Erna Schmidt. Das Mädchen war ganz jung, kaum siebzehn. Sie nahm Theodor mit in ein Hinterzimmer, legte sich ohne weiteres auf die rote wollene Chaiselongue, zog eine Gardine vor.[...] Auf dem schmierigen Sofa erblühte in Theodor ein sanftes Mitgefühl mit diesem Kinde, das zierlich und samthäutig war wie ein Reh. 78 Die»rote Laterne«, in deren sanftem Schimmer Theodor fortan Trost, Anerkennung und sexuelle Befriedigung findet, avanciert im weiteren zum leitmotivisch wiederholten Symbol käuflicher Liebe. 79 Vorausweisend auf das, was später einmal das Rotlichtmilieu genannt werden wird, weist die rote Laterne zugleich zurück auf ein übergreifendes Leitmotiv im Erzählwerk Theodor Fontanes. Sowohl in Effi Briest als auch in Mathilde Möhring ist die ›rubinrote Ampel‹ bei Fontane konkreter Gegenstand und erotisches Symbol gleichermaßen. 80 Bei Tergit allerdings erfährt sie, angebracht vor dem Haus, unzweideutigen Signalcharakter: die Weinstube ist ein Bordell mit Erna Schmidt als»Puffmutter« 81 . Waldemar von Haldern und Theodor Oppner: Was beide verbindet, sind ihre realitätsfernen Illusionen über eine Zukunft mit Stine bzw. Wanda , in denen die standesspezifischen bzw. sozialen Unterschiede einfach hinweggeträumt werden:»Ach, meine liebe Stine«, versichert Waldemar,»was geb’ ich denn auf? Nichts, gar nichts. Ich sehne mich danach, einen Baum zu pflanzen oder ein Volk Hühner aufsteigen oder auch bloß einen Bienenstock ausschwärmen zu sehen.« 82 Und Theodor träumt vor sich hin:»Hier bei diesem Mädchen[...] war man geliebt, umhegt, beglückt. Das war keine überspannte Gans[...] und kein Gesellschaftsaffe wie Annette. Hier war das süße, aus unbekannten Quellen sprießende Leben.« 83 Um den erhofften familiären Segen für seinen Entschluss zu erlangen, Stine zu heiraten, wendet sich Waldemar von Haldern an seinen Onkel. Dessen Reaktion allerdings lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Also kurz«, leitet Waldemar das Gespräch ein,»ich habe vor, mich zu verheiraten.« 84 Als der Graf erfährt, dass es sich um Stine handelt, fährt der Erzähler fort:»Der alte Graf sprang auf, warf seinen Stuhl um einen Schritt
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(2022) 113
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