Heft 
(2022) 113
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Fontane und Gabriele Tergit  Sill 115 Und wenig später bekräftigt Waldemar Goldschmidt:»Die freie Herzensbe­stimmung, das wäre der Anfang vom Ende!« 96 Wie gesagt: Diese Szene spielt im Winter 1889/90. Etwa drei Jahre zu­vor, am 13. Januar 1887, erschien in der Vossischen Zeitung Theodor Fonta­nes erste Kritik der Gespenster im Anschluss an die Aufführung im Resi­denztheater. Darin nutzt Fontane die Gelegenheit, um in Auseinandersetzung mit Ibsens Thesen zur bürgerlichen Ehe eine grundsätzliche Stellungnah­me einzuflechten: So lange die Welt steht oder so lange wir Aufzeichnungen haben über das Gebahren der Menschen in ihr, ist immer nach den ›Verhältnissen‹ und nur sehr ausnahmsweise nach Liebe geheirathet worden. Die vor­christliche Zeit kannte den Luxus des Nach-Liebe-Heirathens kaum, je­denfalls war es Ausnahme, nicht Regel. Jacob, der Rahel liebte, begann, wohl oder übel, mit Lea ; Ruben, Simeon, Levi, Juda und zwei andere noch(schon die Zahl imponiert) wurden ihm aus dieser vergleichsweisen Gleichgiltigkeits-Ehe geboren, Hervorbringungen, die hinter Benjamin und selbst hinter der ägyptischen Excellenz Joseph in nichts, am wenigs­ten in Kraft und Gesundheit, zurückblieben. 97 Und abschließend bekräftigt Fontane nochmals:»Die größte aller Revoluti­onen würde es sein, wenn die Welt, wie Ibsens Evangelium es predigt, über­einkäme, an Stelle der alten, nur scheinbar prosaischen Ordnungsmächte die freie Herzensbestimmung zu setzen. Das wäre der Anfang vom Ende.« 98 Nicht nur die abschließende Kernaussage, sondern auch der weit ausho­lende Rückgriff auf die Geschichte Jacobs, erzählt im 1. Buch Mose , ent­nimmt Gabriele Tergit nahezu wortwörtlich der Kritik Theodor Fontanes. Bei genauerem Hinsehen aber stellt sich die Frage, wer hier den Theaterkri­tiker Fontane eigentlich zitiert: Ist es die Autorin Tergit, die sich der Argu­mentation Fontanes stillschweigend bedient, oder ist es nicht doch eher die Figur Waldemar Goldschmidt, der seinem schwärmenden Neffen diese Lehre mit auf den Weg gibt, ohne die Quelle seiner Argumentation offenzu­legen? Doch wie dem auch sei: Offenkundig ist die Verschränkung von Fakt und Fiktion, in der der Theaterkritiker Theodor Fontane zur Hintergrund­figur einer erfundenen Szene avanciert. Damit aber nicht genug: Denn der rigide Ehebegriff, den Fontane in seiner Kritik kundtut, ist aus seiner Feder auf den ersten Blick ebenso überraschend wie aus dem Munde des freigeis­tigen, wissenschaftlichem Fortschritt gegenüber aufgeschlossenen Walde­mar Goldschmidt. Hier wie dort erwächst die Stellungnahme in Sachen Eheschließung aus der entschiedenen Ablehnung jener Thesen, die Henrik Ibsen in seinen Theaterstücken zu illustrieren sich bemüht. Und Waldemar Goldschmidt, konfrontiert mit oberflächlichen Phrasen aus dem Munde Theodors und seines Freundes,»Ibsen hat endlich die Frau befreit« 99 , hätte sich zweifellos der Meinung Fontanes angeschlossen, als dieser in einem Brief an Friedrich Stephany deutlich wurde:»[...] alles, was da[bei Ibsen ] an