116 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Lebensanschauungen und Doktrinen mit drunterläuft, ist der reine Unsinn, so daß ein alter Kerl wie ich bloß drüber lachen kann.[...] Man muß unverheiratet sein, wie unsre jungen Freunde, um auf diesen Zopf von Ehe, freier Liebe, Selbstbestimmung, Verantwortlichkeit etc. etc. anzubeißen.« 100 ›Unsere jungen Freunde‹ – das könnten eben auch Theodor und Miermann sein. ›Die freie Herzensbestimmung, das wäre der Anfang vom Ende.‹ – Dieser Satz, ausgerechnet dieser Satz erweist sich als unübersehbares Brückenmotiv zwischen Werk und Denken Theodor Fontanes einerseits und Gabriele Tergits Roman Effingers andererseits; ein Sachverhalt, den es mit Blick auf beide Seiten näher auszuleuchten gilt. Woran sich Theodor Fontane in seinen beiden Besprechungen der Gespenster in erster Linie stößt, ist das Dogmatische einer Position, in der die Liebesheirat als einzig berechtigter und richtiger Weg verherrlicht wird. »Was will Ibsen ?« fragt der Theaterkritiker im Januar 1887 – und gibt in der ersten seiner beiden Thesen folgende Antwort:»Wer sich verheirathen will, heirathe nach Neigung, aber nicht nach Geld.« 101 Hier, aber auch im September 1889, wird Fontane nicht müde, den Wahrheitsanspruch dieser Aussage in Zweifel zu ziehen, spricht nicht nur von Ibsens These oder»Idee« 102 , sondern auch von dessen»Doktrin« oder»Confessions« 103 . Mit gleicher Vehemenz setzt er dem nun sein eigenes»Credo« 104 entgegen, in seiner Grundsätzlichkeit von kaum geringerem Wahrheitsanspruch als Ibsens Bekenntnis zur freien Liebeswahl. Zu diesem Zweck greift Fontane mit seinem Verweis auf die Genesis nicht nur zurück auf die Anfänge der Menschheitsgeschichte, sondern entwirft zugleich auch das Szenario einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Liebe zur Richtschnur aller Paarbeziehungen geworden ist. Eine solche Welt, so Fontane zunächst, wäre»um kein Haarbreit besser« 105 , um dann noch nachzulegen: Es wäre eine Welt der»Verschlimmbesserung ohne Gleichen«; eine Welt, die»in ein unendliches Wirrsal« 106 stürzen würde. Was Fontane da für die Zukunft befürchtet, wäre, so Monika Ritzer, nichts anderes als»das Ende jedes sozialen Verbunds« 107 . In diesem Zusammenhang erlangt die von Theodor Fontane so oft und so positiv verwendete Metapher des Herzens eine durchaus negative Bedeutung. Denn»das menschliche Herz«, so Fontane hier, sei gekennzeichnet durch»seine Gebrechlichkeit und seine wetterwendische Schwäche« 108 : mit der Folge eines fortwährenden»Hin und Her vom einen zum andern«, einem »Lieben auf Abbruch« als Konsequenz»ewig wechselnder Neigungen« 109 . Dem Einhalt zu gebieten, so Fontane in einem Brief an Otto Brahm , sei allein das sechste Gebot befähigt, Ausdruck einer»Norm«, eines»Gesetzes«, das – ungeachtet aller Wirrnis in der Welt – seine Strahlkraft noch nicht eingebüßt habe:»›Du sollst nicht ehebrechen‹, das ist die Norm und wohl dem, der, nicht in Versuchung und nicht in Kämpfe geführt, dieser Norm entspricht« 110 . Der menschlichen Natur mit ihren flüchtigen Neigungen und Be-
Heft
(2022) 113
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