Heft 
(2022) 113
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Fontane und Gabriele Tergit  Sill 117 dürfnissen setze das sechste Gebot den Leitsatz»Ehe ist Ordnung« 111 entge­gen. In diesem Leitsatz aber verkörpert sich für Fontane»das Stabile der Pflicht« und»das Dauernde des Vertrags« 112 ein letzter, noch immer intak­ter Damm gegen das drohende Chaos einer vollends entfesselten Welt freier Herzensbestimmungen. Mit der Geschichte Jacobs zunächst weit in die Ver­gangenheit zurückgreifend, dann Schreckensszenarien der Zukunft entwer­fend, formuliert der Theaterkritiker Theodor Fontane seine persönliche Überzeugung, die da lautet:»[...] alles ist Pakt und Uebereinkommen. ›Die Liebe findet sich‹ und wenn sie sich nicht findet, so schadet es nicht.« 113 An solch rigidem Eheverständnis hatte Otto Brahm Anstoß genommen. Darauf nun reagiert Fontane wiederum mit seinem Brief vom 21. April 1888, in dem er eine Lesart von Irrungen, Wirrungen andeutet, die ihm, dem Kritisierten, erst durch diese Kritik als»Tendenz« 114 seines Romans aufgegangen sei: eben jener Leitsatz»Ehe ist Ordnung«. Nun: So gewiss Botho von Rienäcker und später auch Lene Nimptsch in Vernunftehen lan­den, die ihnen gesellschaftliche Akzeptanz, Stabilität und materielle Sicher­heit gewähren; so gewiss ist aber auch, dass eine solch einseitige Festle­gung diesem Roman keineswegs gerecht wird. Denn im Vordergrund der ersten Hälfte steht, so Fontane an anderer Stelle, die Darstellung eines »freien Liebesverhältnis[ses]« 115 , während in der zweiten Hälfte der Preis im Vordergrund steht, den beide dafür zu zahlen haben. Und dieser Preis ist hoch, weil es wahrhaft Liebe war, die beide für einige Wochen miteinander verband, nun aber zu einer Erinnerung geworden ist, mit der sowohl Botho als auch Lene in ihrer jeweiligen Ehe leben müssen. Was Botho und Lene in der Zeit ihres gemeinsamen Glücks tun, gleich­sam hinter dem Rücken einer stets genau beobachtenden Gesellschaft, ent­zieht sich in Fontanes Sicht zunächst einmal jeder Kritik, zumal jeder mora­lisch motivierten Kritik, weil sowohl Botho als auch Lene zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch den»Pakt« einer Ehe gebunden sind: Der freie Mensch aber, der sich nach dieser Seite hin zu nichts verpflich­tet hat, kann tun, was er will, und muß nur die sogenannten natürlichen Konsequenzen, die mitunter sehr hart sind, entschlossen und tapfer auf sich nehmen. Aber diese ›natürlichen Konsequenzen‹, welcher Art sie sein mögen, haben mit der Moralfrage gar nichts zu schaffen. 116 Lene und Botho tun, was sie wollen, auch in Hankels Ablage. Aber die Dar­stellung dieses Liebesglücks, schwebend zwischen Wirklichkeit und Mär­chen 117 , bereitet eben auch vor, was im zweiten Teil des Romans konsequent in seiner ganzen Tiefe ausgelotet wird. Anders formuliert: Nach der Lie­besnacht ist der»Kladderadatsch« 118 da und gelangt schmerzlich zu Be­wusstsein. Denn mit dem Erscheinen von Bothos Freunden wird dieses freie Liebesverhältnis unausweichlich zu dem, was es in gesellschaftlicher Perspektive eben ist: ein Verhältnis wie andere auch.