Heft 
(2022) 113
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118 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Du»kommst[...] zu früh, so spät Du kommst« 119 , entgegnete Lene am Abend zuvor dem eintretenden Botho für sie, zumindest in diesem Augenblick, der ersehnte Märchenprinz. Ihre Entgegnung, auf der Handlungsebene re­alistisch plausibilisiert, greift in ihrer programmatischen Bedeutung weit aus in Vergangenheit und Zukunft: Was schon immer ersehnt wurde(es kommt so spät), geschieht gleichwohl noch immer vor der Zeit(es kommt zu früh), nämlich ein gesellschaftlich akzeptiertes und dauerndes Liebesglück freier Menschen. Immerhin: Lene und Botho erlebten in Hankels Ablage für kurze Zeit das Paradies vor der»Vertreibung aus dem Paradiese« 120 . Nicht so Jacob, an den Theodor Fontane in seinem engagierten Plädoyer gegen Henrik Ibsens Gespenster erinnert. Jacob, der eigentlich das Liebesglück mit Rahel ersehnte, findet sich hinein in die Ehe mit Lea , aus der dann aller­dings eine imposante Zahl gesunder und kräftiger Kinder hervorgeht. Auch Botho fügt sich, wohl oder übel, in die Ordnung seiner Ehe mit Käthe von Sellenthin, fortan allerdings lebend mit der Last der Erinnerung an ein einst erlebtes Liebesglück:»Ob ich nun frei bin?... Will ichs denn. Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.« 121 Im Herzen auf ewig an Lene gebunden, bleibt Botho, anders als Jacob, Nachwuchs versagt. Oder anders gewendet: Auch wenn die Eheschließungen Ordnung ins Leben beider Pro­tagonisten bringen, erweist sich die Herzensverbindung quer zur doppel­ten Eheordnung insgeheim doch als die stärkere Kraft. Diese Lesart, in der ästhetischen Struktur des Romans durchaus ange­legt, ist kaum vereinbar mit dem geradezu herzlos anmutenden Diktum, dass sich in der arrangierten Ehe die Liebe schon finde,»und wenn sie sich nicht findet, so schadet es nicht« 122 . Nicht nur Irrungen, Wirrungen spricht da eine andere Sprache, auch Cécile und Effi Briest legen anderes nahe, weil sich in beiden Romanen die Liebe zum Ehepartner partout nicht einstellen will zuletzt sehr zum Schaden aller Beteiligten. Nun gehörten die Sympa­thien des Autors gerade Frauenfiguren wie Cécile oder Effi, die unter ihren Ehen litten und mit ihrem Handeln die Ordnung der Ehe ins Wanken brin­gen; Frauenfiguren mithin, die»einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen.« 123 Zur Wahrheit gehört aber auch, was Monika Ritzer in diesem Zusammen­hang über Fontane hervorhebt:»Aber als Erzähler legt er den Fokus auf diese Schwächen und liefert die Sünder unweigerlich den Reaktionen ihrer Umwelt aus.« 124 1878 meint Fontane noch, ein interessanter, in Novellenform auszuarbeitender Stoff benötige neben geeigneten Charakteren ein»poe­tisch zu muthmaßendes Verhältniß von Schuld und Strafe« 125 , das sich ent­lädt im tragisch endenden Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Zehn Jahre später, im bereits zitierten Brief an Otto Brahm , schwächt Fon­ tane dieses Diktum ab, nicht nur, weil das zum Gesetz erhobene sechste Gebot allerorten gebrochen werde, sondern auch, weil die Schuldfrage in