Fontane und Gabriele Tergit Sill 119 einer rasant sich verändernden Gesellschaft stets neu und stets anders beantwortet werde:»[...] der Complicirtheiten modernen Lebens sind so viele, daß das Gesetz jeden Tag und jede Stunde durchlöchert wird, weil es durchlöchert werden muß, wodurch wir, wollend oder nicht, unsere Stellung zur Schuldfrage beständigen Wandlungen unterworfen sehen.« 126 Und vielleicht ist es Fontanes Empörung über»konventionelle Lüge«, über»Heuchelei« und über die»Haltung einiger Zeitungen, deren illegitimer Kinderbestand weit über ein Dutzend hinausgeht« 127 , die ihn umso mehr in der Überzeugung bestärkt, dass es sich beim sechsten Gebot um ein»ein Ideal verkörpernde[s] Gesetz« 128 handelt. Sollte es aber dereinst zusammenbrechen und die»freie Herzensbestimmung« vollends triumphieren, das wäre dann seiner Überzeugung nach»der Anfang vom Ende« 129 . Theodor Fontane spricht hier in eigenem Namen,»persönlich tief überzeugt« 130 von dem, was er gegen Ibsen über Ehe und Liebe in diesem Zusammenhang äußert. Anders womöglich im Falle von Waldemar Goldschmidt im Roman Effingers. Denn Waldemars Bekenntnis gegen die»freie Herzensbestimmung« dient zunächst einmal der Belehrung seines Neffen, der – unerfahren wie er ist – den Kopf noch voller Ideale hat. Um Waldemars Motive genauer auszuleuchten, bedarf es einer näheren Beschäftigung mit der weit verzweigten Vorgeschichte der eingangs zitierten Szene. Und zu dieser Vorgeschichte gehört Theodors unglückliche Liebe zu der auf den Bühnen Berlins gefeierten Sängerin Susanna Widerklee. Für Theodor ist die um einige Jahre ältere Susanna letztlich unerreichbar. In seinem Schmerz tröstet er sich von Zeit zu Zeit in den Armen des Straßenmädchens Wanda Pybschewska. Als Wanda schwanger wird, beschließt Theodor, von romantischen Vorstellungen erfüllt, sie zu heiraten. Und so wendet er sich an seinen unkonventionell lebenden und denkenden Onkel Waldemar, um Zuspruch und Unterstützung für sein Vorhaben zu erlangen. Der aber reagiert anders als von Theodor erwartet. Fernab moralischer Erwägungen führt Waldemar seinem Neffen vor Augen, dass ein solcher Schritt keine allein individuelle Angelegenheit ist, sondern eben auch in gesellschaftlicher Perspektive weitreichende Folgen hätte – nicht nur für ihn selbst, sondern auch für das Renommee und den Status des Bankhauses Goldschmidt& Oppner: ›[...] willst du Eremit werden? Oder einen kleinen Angestelltenposten annehmen in einem Geschäft, wo alle Leute sagen werden: ›Das ist der Oppner, den haben sie in der Firma nicht behalten?‹/ ›Findest du es richtig, daß man solchen Druck auf mich ausübt?‹/ ›Jawohl. Ein Bankier lebt vom Vertrauen seiner Mitmenschen. Wenn du glaubst, stark genug zu sein, um außerhalb dessen, was man die Gesellschaft nennt, zu leben, so mußt du es tun. Früher hat man gesagt: Noblesse oblige, heute, zu einem andern Zeitpunkt, heißt es: Reichtum verpflichtet. Man hat im Interesse seiner Firma zu heiraten, wie man im Adel keine Unebenbürtige heira-
Heft
(2022) 113
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