Heft 
(2022) 113
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120 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte tet. Du genießt die Vorteile einer gehobenen Stellung, du hast auch ihre Verpflichtungen anzuerkennen. Diese Heirat wäre unweigerlich der Ab­stieg. So werden Firmen kaputt gemacht, und so gehen alte Häuser zu­grunde./[...] ›Ich dachte, du würdest mir gratulieren und bravo rufen, weil ich mich über Konventionen hinwegsetze./ ›Affenschwanz, ich fin­de kein Heldentum darin, wenn man eine Wanda Pybschewska statt ei­ner Rothschild heiratet. 131 Theodor ahnt nicht, dass sein Onkel hier Einwände und Bedenken formu­liert, die nicht nur den Neffen, sondern auch ihn selbst betreffen. Denn im Verborgenen lebt auch Waldemar seit einigen Jahren in einem Verhältnis mit eben jener Susanna Widerklee, die die Huldigungen des jungen Theodor gerne entgegennimmt, deren Liebe jedoch Waldemar Goldschmidt gehört. Und wie bei Botho und Lene lässt die Erzählinstanz keinen Zweifel darüber aufkommen, dass diese Liebe auf Wechselseitigkeit beruht. Um dies erzäh­lend unter Beweis zu stellen, standen Gabriele Tergit allerdings schon ande­re Darstellungsmöglichkeiten zur Verfügung als noch Theodor Fontane . Im Falle von Irrungen, Wirrungen genügte schon die Andeutung einer Liebes­nacht in Hankels Ablage, um ebenso empörte wie heuchlerische Reaktionen hervorzurufen. Gabriele Tergit hingegen kann und darf das wechselseitige Begehren des Liebespaares darstellen. Im gleitenden Perspektivwechsel von Figurenrede, Erzählerkommentar und erlebter Rede tritt die Lust der Frau gleichberechtigt neben die des Mannes. Waldemar stand auf, riß die Frau an sich, küßte ihren Mund. Sie kannten sich. Su­sanna sehnte sich nach ihm. Er führte sie die wenigen Schritte zum Schlafzimmer. Ach, wie sie ihn liebte, diesen raschen Sturm, diese tiefe Gleichgültigkeit gegen Sträuben und Wehren, diese Verachtung aller Unwahrheit!/ ›Ach, nicht, bitte nicht‹, sagte Susanna./ ›Warum sagst du nein, wo dir nach ja ist? Sie fühlte, er mochte das nicht. ›Schäm dich, daß du dich schämst!/ Welche Wohltat, dachte Susanna, als sie bei ihm lag, ehrlich sinnlich sein zu dürfen! 132 In der Tat: Waldemar Goldschmidt und Susanna Widerklee sind verbunden durch ein»freie[s] Liebesverhältnis« 133 , dessen sinnliche Dimension im schärfsten Kontrast steht zur ehelichen Pflichterfüllung, in die sich Walde­mars Schwester Selma, die Mutter Theodors, in ihrer Ehe mit Emmanuel Oppner von Zeit zu Zeit noch immer zu fügen hat: Emmanuel»umarmte sie, die noch heute ein junges Mädchen war, dem diese Form der ehelichen Lie­be eine Pflicht schien, eine peinliche, demütig ausgeübte Pflicht, wie das ganze Leben von demütig ausgeübten Pflichten erfüllt war.« 134 Was dagegen Susanna in den Armen Waldemars erlebt, hat viel zu tun mit Henrik Ibsens Credo zur Befreiung der Frau. Umso erstaunlicher scheint es daher zunächst, dass sich Waldemar gegenüber Theodor so vehe­ment gegen Ibsen ausspricht. Aber anders als Theodor, der aus der Pers­pektive seines behüteten Daseins nur mit Verachtung auf alle gesellschaft-