Heft 
(2022) 113
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Fontane und Gabriele Tergit  Sill 121 lichen Konventionen blickt, weiß Waldemar um die Unberechenbarkeit einer Gesellschaft, die es in der Hand hat, momentan empfundenes Glück in dauerhaftes Unglück zu verkehren. Als der um viele Jahre ältere Graf Sedt­witz um die Hand der»beliebte[n] und berühmte[n] Opernsoubrette Susan­na Widerklee« 135 anhält, wendet sich Susanna in einem Brief hilfesuchend an Waldemar. Sie weiß, dass sie»in diesen Grafen keineswegs verliebt« ist, bekennt ein weiteres Mal,»daß ich Dich liebe« 136 und macht Waldemar ei­nen Antrag. Der aber rät ihr gegen seine eigenen Gefühle zur Ehe mit dem Grafen. Und in seiner Begründung erinnert er nicht nur an das ›Wet­terwendische des Herzens‹, sondern auch an den mit dieser Heirat verbun­denen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr für alle Zeit Schutz und materiel­le Sicherheit gewähre: Liebste Susanna,/ ich antworte Dir ganz einfach und deutlich. Ich wün­sche Dir Glück und rate Dir, den Grafen zu heiraten.[...] Mein Mädchen, begib Dich in die Aristokratie. Ein alter Graf ist besser als ein junger Professor, der weder jung noch Professor ist, sondern nur korrespondie­rendes Mitglied gelehrter Gesellschaften.[...] Die Tiergartenstraße[...] ist eine schöne Gegend, aber Du wirst sie doch nicht dem Schloß eines schlesischen Grafen vorziehen? Dein Antrag ehrt mich wie Dich, weil Dein Herz die Rangordnung der Liebe der der Gesellschaft vorzieht. Aber ein Schloß ist aus Stein, ein Herz zerfällt zu Staub. Baue lieber auf Stein./ Mein süßes Mädchen, lebe wohl./ Waldemar. 137 Und so liest Selma Oppner, der der Einfluss der Widerklee auf ihren Sohn Theodor von Anfang an ein Dorn im Auge war, bald darauf in der Zeitung: »Aus der Gesellschaft./ Eine aufsehenerregende Verlobung wird soeben mitgeteilt, Graf Aribert Sedtwitz-Miskowitz auf Schloß Unterwäldchen wird unsere beliebte und berühmte Opernsoubrette Susanna Widerklee heimführen. Frau Widerklee wird sich von der Bühne zurückziehen.« 138 Waldemar entsagt wie es scheint: endgültig.(Was er zu diesem Zeit­punkt nicht wissen kann, erfahren wir Lesende erst 200 Seiten später. Im März 1913 wird Waldemar die verwitwete Susanna Gräfin Sedtwitz wie­dersehen und bald darauf heiraten.) Vorerst aber ist es diese Entscheidung gegen die eigenen Gefühle, die Waldemar im Hinterkopf hat, als er Theodor mit dem Hinweis, die freie Herzensbestimmung sei der Anfang vom Ende, nochmals daran erinnert, dass es im Falle einer Eheschließung um mehr geht als nur um Liebe. Und dennoch stellt sich die Frage: Warum zieht Waldemar es nicht ein­mal in Erwägung, Susanna zu heiraten? Denn schließlich wäre er, der fi­nanziell unabhängige Jurist und Kunstsammler, eine so schlechte Partie für die Schauspielerin auch nicht gewesen, jedenfalls keine Mesalliance wie Wanda Pybschewska für den Bankierssohn Theodor Oppner. Hier kommt eine zusätzliche, in diesem Zusammenhang nicht explizit thematisierte Sinn­ebene ins Spiel, die in den ersten Jahrzehnten erzählter Zeit allenfalls