Fontane und Gabriele Tergit Sill 121 lichen Konventionen blickt, weiß Waldemar um die Unberechenbarkeit einer Gesellschaft, die es in der Hand hat, momentan empfundenes Glück in dauerhaftes Unglück zu verkehren. Als der um viele Jahre ältere Graf Sedtwitz um die Hand der»beliebte[n] und berühmte[n] Opernsoubrette Susanna Widerklee« 135 anhält, wendet sich Susanna in einem Brief hilfesuchend an Waldemar. Sie weiß, dass sie»in diesen Grafen keineswegs verliebt« ist, bekennt ein weiteres Mal,»daß ich Dich liebe« 136 und macht Waldemar einen Antrag. Der aber rät ihr – gegen seine eigenen Gefühle – zur Ehe mit dem Grafen. Und in seiner Begründung erinnert er nicht nur an das ›Wetterwendische des Herzens‹, sondern auch an den mit dieser Heirat verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr für alle Zeit Schutz und materielle Sicherheit gewähre: Liebste Susanna,/ ich antworte Dir ganz einfach und deutlich. Ich wünsche Dir Glück und rate Dir, den Grafen zu heiraten.[...] Mein Mädchen, begib Dich in die Aristokratie. Ein alter Graf ist besser als ein junger Professor, der weder jung noch Professor ist, sondern nur korrespondierendes Mitglied gelehrter Gesellschaften.[...] Die Tiergartenstraße[...] ist eine schöne Gegend, aber Du wirst sie doch nicht dem Schloß eines schlesischen Grafen vorziehen? Dein Antrag ehrt mich wie Dich, weil Dein Herz die Rangordnung der Liebe der der Gesellschaft vorzieht. Aber ein Schloß ist aus Stein, ein Herz zerfällt zu Staub. Baue lieber auf Stein./ Mein süßes Mädchen, lebe wohl./ Waldemar. 137 Und so liest Selma Oppner, der der Einfluss der Widerklee auf ihren Sohn Theodor von Anfang an ein Dorn im Auge war, bald darauf in der Zeitung: »Aus der Gesellschaft./ Eine aufsehenerregende Verlobung wird soeben mitgeteilt, Graf Aribert Sedtwitz-Miskowitz auf Schloß Unterwäldchen wird unsere beliebte und berühmte Opernsoubrette Susanna Widerklee heimführen. Frau Widerklee wird sich von der Bühne zurückziehen.« 138 Waldemar entsagt – wie es scheint: endgültig.(Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen kann, erfahren wir Lesende erst 200 Seiten später. Im März 1913 wird Waldemar die verwitwete Susanna Gräfin Sedtwitz wiedersehen und bald darauf heiraten.) Vorerst aber ist es diese Entscheidung gegen die eigenen Gefühle, die Waldemar im Hinterkopf hat, als er Theodor mit dem Hinweis, die freie Herzensbestimmung sei der Anfang vom Ende, nochmals daran erinnert, dass es im Falle einer Eheschließung um mehr geht als nur um Liebe. Und dennoch stellt sich die Frage: Warum zieht Waldemar es nicht einmal in Erwägung, Susanna zu heiraten? Denn schließlich wäre er, der finanziell unabhängige Jurist und Kunstsammler, eine so schlechte Partie für die Schauspielerin auch nicht gewesen, jedenfalls keine Mesalliance wie Wanda Pybschewska für den Bankierssohn Theodor Oppner. Hier kommt eine zusätzliche, in diesem Zusammenhang nicht explizit thematisierte Sinnebene ins Spiel, die in den ersten Jahrzehnten erzählter Zeit allenfalls
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(2022) 113
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