122 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte beiläufig Gesprächsgegenstand wird, bevor sie im 20. Jahrhundert vollends virulent wird und den Untergang der jüdischen Familien herbeiführt: der Antisemitismus. Waldemar aber ist, wenn man so will, in diesem Roman das erste Opfer einer im wilhelminischen Kaiserreich strukturell verankerten Judenfeindlichkeit. Er muss erfahren, dass die seit 1879 gesetzlich fixierte Gleichberechtigung aller Konfessionen noch längst nicht gleichzusetzen ist mit gesellschaftlicher Akzeptanz. Im Jahre 1885 steht»Dr. jur. Waldemar Goldschmidt, Privatdozent an der Berliner Universität[...], am Fenster seiner Wohnung Unter den Linden «, nachdem er soeben einen Brief erhalten hat, in dem ihm ein wohlmeinender Kollege rät zu konvertieren. Andernfalls bestünde»keine Aussicht für Sie, in Preußen eine Anstellung zu erhalten« 139 . Waldemar entscheidet sich dagegen. Dabei sind es keine religiösen Gründe, die seine Entscheidung gegen die Taufe motivieren würden. Was er ablehnt, ist die mit einem solchen Schritt verbundene Anerkennung der»Mächtigen«; es wäre, so Waldemar in seinem Antwortschreiben,»ein Kotau vor der Macht« 140 . Mit dem»Verzicht auf die Professorenschaft an der Berliner Universität« 141 bleibt ihm, dem leidenschaftlichen Juristen und glänzenden Nachwuchswissenschaftler, als einzige Möglichkeit,»weiter an den Grundlagen[zu] arbeiten. Einsam, allein der Weg über das Buch.« 142 Das aber ist noch nicht alles. Denn fortan weiß Waldemar Goldschmidt, dass er – ungeachtet allen Wohlstands und der damit verbundenen Privilegien – zu den Gefährdeten gehört.»Ich gehöre zu einer verachteten Rasse und bin ein Bürger zweiten Ranges« 143 , bemerkt er in seinem Antwortschreiben an den Kollegen. Und es steht außer Zweifel, dass diese prägende Erfahrung auch sein Denken beeinflusst, wenn er in Sachen Eheschließung dazu rät, die gesellschaftlichen Konsequenzen mit zu bedenken. An einem»Sonnabend im März des Jahres 1913« sehen sich beide wieder: Waldemar, mittlerweile»groß und bärenhaft mit seinem grauen Vollbart« 144 , und Susanna, deren Gesicht»schön geblieben« ist, das»kleine Decolleté« allerdings»rot und rissig« 145 . Gleich mit ihren Begrüßungsworten gibt Susanna ihm zu verstehen, dass sein damaliger Rat, gegen alle Gefühle, der richtige gewesen ist:»Lieber alter Freund, mein weiser Ratgeber[...].« 146 Von Weisheit ist in diesem Roman noch einmal die Rede. Nun aber gilt dieses Attribut nicht Waldemar, sondern jener Hintergrundfigur, die Waldemar im Gespräch mit seinem Neffen über freie Liebesverhältnisse stillschweigend zitiert hatte, eben Theodor Fontane . Wir befinden uns im Mai 1948. Noch immer, bemerkt die Erzählerin, liegt die»ganze Tiergartenstraße[...] in Schutt und Asche. Nur der alte Fontane aus weißem Stein, den Mantel über der Schulter, der war stehengeblieben und sah mit weisen Augen auf die Trümmer.« 147
Heft
(2022) 113
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