Heft 
(2022) 113
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Die Schlange im Wolfspelz  Hehle 151 man im Englischen overwritten nennt.[] Die Wörter sind wie eine reflek­tierende Scheibe vor den Sachen. Sie stören bei dem Transfer-Akt, das gele­sene Wort möglichst lichtschnell in eine Vorstellung zu verwandeln«(S. 32). Stil ist indes nicht alles: Jemand kann ein großer Autor sein, ohne ein guter Stilist zu sein, und umgekehrt.»Joseph Conrad wird nicht wegen seines Stils gelesen wie Henry James (der zumindest im Spätwerk wohl eher trotz seines Stils gelesen wird). In Stefan Zweigs Die Welt von Gestern finden sich auf fünfhundert Seiten zwei neu gesehene Metaphern und fast kein überraschen­des Adjektiv, trotzdem ist es ein großes, bewegendes Zeitzeugnis«(S. 19). Die folgenden Kapitel, betitelt»Im Weinberg«,»Die Instrumente zeigen«, »Die Bibliothek«,»Kürzestausflug: Lyrik«,»Das Pikante und der Spaß der Welt«, sind ein Parcours durch die deutschsprachige Literatur des späten 18. und 19. bis 21. Jahrhunderts; ein Parcours in dem Sinne, dass der Autor nicht chronologisch oder nach Gattungen, sondern sprunghaft und assozia­tiv vorgeht und der Leser ihm vergnügt und nie oder sagen wir, höchst selten gelangweilt folgt. Michael Maar läuft, gleitet und springt mit der Spontaneität, dem Schwung, der Lust eines passionierten Lesers und Kriti­kers, zugleich mit der Trittsicherheit und Ausdauer eines erfahrenen Philolo­gen, Romanciers und Essayisten. Es geht vornehmlich um Prosa, aber nicht ausschließlich um fiktionale Texte, und keineswegs nur um die sogenannte hohe Literatur: Nietzsche , Schopenhauer und natürlich Freud kommen als Stilisten ebenso zu Ehren wie Marie-Luise Scherer mit ihren Reportagen oder Hildegard Knef mit ihren Memoiren. Kenntnisreich und unterhaltsam, oft sehr witzig, oft auch stilistisch den Inhalt spiegelnd wird analysiert, ohne Scheu vor subjektiven Urteilen und ohne Respekt vor großen Namen. So erhält zum Beispiel Heinrich von Ofterdingen mit guten Gründen schlechte Noten, trotz Novalis »Aperçus und Fragmenten und all seinem Blüthenstaub«(S. 197):»Als Stilist ist Novalis gegen Hebel, gegen den Titan Jean Paul , gegen Joseph von Eichendorff , gegen Brentano , gegen Rahel Varnhagen , gegen Kleist erst! ein unendlich liebenswürdiger und rühren­der Tropf«(S. 198 f.), heißt es im Romantik-Kapitel(das, zum Bedauern der Rezensentin, zwar Abschnitte über all die Genannten, aber nicht über E. T. A. Hoffmann enthält). Nicht besser ergeht es Hölderlin als Autor des Hyperion :»Anders als der Faust ist Hyperion komplett ironiefrei; dafür ge­tränkt von Selbstmitleid.[] Romanprosa war letztlich nicht Hölderlins Sa­che, so wenig wie das Dramatische in seinem Empedokles. Ganz anders die Lyrik, das lange Gedicht in freien Rhythmen ha! hier übertraf er alle Zeit­genossen und errang die literarische Ewigkeit, nach der es ihn so glühend verlangte. Hälfte des Lebens und Brod und Wein hätten eben weder Goethe noch Schiller verfassen können«(S. 201 f.). Eine eingehende Besprechung von Storms Schimmelreiter schließt mit einem unverblümten Fazit:»Das leicht Zwanghafte an Storm, das Hypochondrisch-Halbverklemmte bei be­trächtlichem libidinösen Unterstrom, hat eine künstlerisch bedenkliche