156 Fontane Blätter 113 Rezensionen folgen. Da es sich um»Fallstudien«(S. 15) handelt, mag die Frage nach den Kriterien der Auswahl nicht vordringlich sein. Es fällt aber schon auf, wie bedeutende Werkgruppen, die sich um ›Vorgeschichte‹ drehen, leichten Herzens ausgeklammert werden(die ›verwilderten‹ Romane der Romantik, Kriminal- bzw. Detektiverzählungen, Scotts Waverley-Novels mit ihrem eigenen Vorgeschichtsbegriff). Und hat der Tristram Shandy in Sachen Vorgeschichte nichts zu sagen? Der anaphorisch angeordnete Interpretationsteil –»Vor dem Roman« (Goethe) –»Vor dem Subjekt«(Stifter) –»Vor der Moderne«(Fontane ) – kann hier nicht in gleicher Ausführlichkeit referiert werden. Bei Goethe trägt die Offenlegung der Vorgeschichten noch viel zur Lösung der teils liebesabenteuerlichen Konflikte im Gefolge der Aithiopika bei. Ermöglicht wird sie durch jene rechtzeitige Anagnorisis vorgeschichtlicher Verhältnisse, die seit alters in Tragödie, Epos und Abenteuerroman den glücklichen Ausgang herbeiführt. Natürlich können Enthüllungen auch verstören und vernichten. Am Geschick des jungen Felix werde deutlich, dass»dessen Geschichte noch zu erzählen wäre. Der retrogradierende Text endet mit einer symbolischen Schleifenbildung an einen neuen Anfang«(S. 162). Bei Stifter dienen Vorgeschichten oft als Warnexempel. Zugleich aber wecken sie die Neugier und das Bestreben, sie aus der Tiefe des Schutts zu bergen, um sich der eigenen Herkunft zu vergewissern und über den Tag hinaus im Einklang mit den Vorgängern – aber noch nicht an ihrer»Kette«(Sohns 2004) – leben zu können. Alle Ausführungen wecken das Interesse und sprechen die Goetheund Stifterphilologie gleichermaßen an. Der Sprung von Stifters erphantasierter eigener, nahezu pränataler Lebens(vor)geschichte( Mein Leben) zu Fontanes Lebenswelt ist groß und wäre mit Blick auf Meine Kinderjahre vielleicht auszumessen gewesen. Vorgeschichten gibt es genug, auch Uraltes begegnet: im Harz ( Cécile ), auf Rü gen ( Effi Briest ) oder in Kloster Wutz( Der Stechlin). Meistens scheint sich zu bewahrheiten, dass man mit erzählten Geschichten ›etwas will‹. Kaum ein Ding oder eine Person, denen man nicht eine Geschichte ›anhängen‹ kann, das mögen Anekdoten als Geschenke sein, Motive bei der Wohnungswahl oder Aufklärungen, die das Leben verdüstern. Ihren Einstieg in Fontanes vorgeschichtenreiche Welt wählt Zumbusch bei Fontanes»erstem Roman«(S. 216) L’Adultera . Hier entdeckt sie»Gesetze der Vorgeschichte«(S. 217) schon im Gespräch Melanies mit Christel, der alten Dienerin(15. Kap.). Was diese von den Vernezobres erzählt, klinge wie ein Bericht»aus einer weit zurückliegenden Zeit«. Zugleich entpuppe sich die Erzählerin, die»nebenan« das Trennungsgespräch des Ehepaars hört, als eine»offenbar an Türen lauschende[] und das Gehörte weitertragende[]«(S. 217) Person. Das tut sie eigentlich nicht und ihr ›Weitertragen‹ hat einen ehrenwerten Grund. Aber benannt werden soll eine»erzählerische Matrix«, die»Fontane in seinen Romanen durchspielen« wird. Mit»Matrix«
Heft
(2022) 113
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten