Heft 
(2022) 113
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Was keine Geschichte ist  Aust 155 schriftliche Quellen gibt, und Herders Aufwertung des biblischen Schöp­fungsberichts als poetische Nachricht über urgeschichtliche Begebenhei­ten konzentriert sich dann auf die empirisch vorgehende Vorgeschichten­forschung im 19. Jahrhundert(Cuvier , Darwin , Tyler, auch Bachofen ) und konturiert darüber hinaus das Verständnis von Urgeschichte als Tiefenge­schichte bei Freud , Benjamin, Horkheimer und Adorno . Nicht alles davon wird in den späteren Kapiteln aufgegriffen; aber es bleibt als entfalteter Hintergrund nützlich. Das anschließende Kapitel informiert unter den Leitwörtern»Episodik und Analeptik« über»Vorgeschichte als Erzählform«. Trotz eher spärlicher Belege wird der Bogen von Aristoteles bis Genette geschlagen, um den Stellenwert des analeptischen Erzählens in einer Poetik der Vorgeschichte zu konturieren. Die Poetiken des 19. Jahrhunderts werden übersprungen; sie bieten wahrscheinlich nichts Eigenes. Dennoch fällt ihr Fehlen auf. Ho­ mers Epen, die Odyssee zumal, bieten gewiss eine werkinterne Poetik der Vorgeschichte, die mit vollem Recht als»produktive Matrix«(S. 109) für alle abenteuerlichen Nachfolger von der Aithiopika bis in die Gegenwart gelten kann. Zumbusch rekonstruiert dieses Modell mit hoher Aufmerksamkeit und vielen guten Beobachtungen. Charakterisiert wird der Homerische Er­zählstil als analeptisches Erzählen(achronologisch, anachron, rückwärts­schreitend, mäandernd sind Synonyme), das als»ordo artificialis« vielfach nachgeahmt wurde, während das gegenteilige Erzählen, das bloß linear und ›ab ovo‹(der Ausdruck widerlegt sich selbst) verfährt, lange als kunst­los galt, aber in der Moderne wieder auflebt. Zumbusch setzt voraus, dass auch im 19. Jahrhundert Homers Erzählweise als ›analeptisch‹ wahrgenom­men wurde. Das stimmt nicht ganz, fordert doch Rudolf von Gottschall in seiner Poetik( 6 1893) die»Notwendigkeit einer stetigen Entwicklung«(Bd. II, S. 128), obwohl er die Neigung der Epiker für»Einschachtelungen des ­Früheren in das Spätere« kennt. Mehr noch: Auch in der Homerforschung wird die Auffassung vertreten, dass»das stetig vorwärts schreitende Ge­schehen[] notwendig als lineares stilisiert« werde(Harald Patzer 1996, S. 93). Das weiß Zumbusch natürlich(S. 81, F 86), glaubt aber, es im Ein­klang mit der übrigen Forschung beiseitelassen zu können. Doch wie steht es mit dem so genannten retrograden Erzählen? Weder wird die Kausal­noch die Zeitfolge umgekehrt; auch in der Unterwelt stockt die Zeit nur dank des listenreichen Erzählers. Ernst zu nehmende Zeitbiegungen sind erst viel später vernünftig erzählbar. Nur wenn man Homers nachgeholte Vorgeschichten auf eine einzige Zeitebene projiziert, entsteht der Eindruck des nicht sukzessiven Erzählens. Der Schwerpunkt von Zumbuschs Buch liegt in den drei Interpretati­onskapiteln, die nach Maßgabe der bis dahin entwickelten Heuristik dem Verlauf des analeptischen Erzählens im Bann der Vorgeschichtsforschung und unter dem Eindruck des vordringenden linearen Erzählens textnah