Unordnung im Stechlin Amannn 19 scheint. 8 Zum ironischen Unterton des Romans gehört es allerdings auch, dass die geschiedene und kinderlose Melusine das letzte Wort hat:»›Es ist nicht nötig, dass die Stechline weiterleben, aber es lebe/ der Stechlin ‹«. 9 Ein möglicher Niedergang des Hauses und des Adelsgeschlechts verhindert offenbar nicht die Fortschreibung der Ursprungserzählung, ihre»semantische Profileration« 10 , z. B. durch einen Roman. Zuvor hatte Melusine bereits an eine Lehre des Sees wie des Stechlin erinnert,»›den großen Zusammenhang der Dinge nie[zu] vergessen‹«(29/320). Angesichts der glatten Handlung, gleichförmigen Bewegungen und dahinplätschernden Gespräche an der Oberfläche sind im See wie im Text Untiefen und Abgründe zu berücksichtigen. 11 Im Folgenden soll an einem vermeintlich nachrangigen Handlungsstrang des Romans, der Agnes-Handlung, zum einen gezeigt werden, wie überkommene ordnungsstiftende Denkmuster von Generation und Genealogie und damit verbundene soziale wie rechtliche Praktiken unter dem Vorzeichen der Moderne ins Zwielicht geraten. Zum anderen geht es darum, die Entfaltung dieses Handlungsstranges im Kontext des Erzählverfahrens genauer zu bestimmen. 12 Während auf der Handlungsebene Woldemars Entscheidung für die – nach einer Bemerkung seines Vaters –»›blasse‹«(36/368) Armgard ordnungsstiftend wirkt, konterkariert die Erscheinung des Kindes, das durch seine ungeklärte Herkunft den Verstoß gegen die gesellschaftlichen Institutionen geradezu verkörpert, diese Lösung. II. Die Gestaltung der Agnes-Handlung setzt nicht erst mit dem Auftritt der Figur ein, sondern wird durch die für den Roman konstitutive Form der Konversation vorbereitet. Melusines schillernder Hinweis auf»den großen Zusammenhang der Dinge« fällt im 29. Kapitel im Gespräch mit ihrem ebenbürtigen intellektuellen Gegenüber, Pastor Lorenzen, dem für sozialdemokratische Ideen aufgeschlossenen Vertrauten des alten Dubslav und Erzieher des jungen Woldemar. Der von Melusine wie von Lorenzen in diesem Gespräch betriebene»›revolutionäre[] Diskurs‹«(29/324) über die Folgen des Wandels mündet in einer historisch außergewöhnlichen Einsicht des Pastors: »Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein.« »Und beinah auch umgekehrt«, lachte Melusine.»Doch lassen wir dies heikle Thema[…]«.(29/321)
Heft
(2022) 114
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten