Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 19 scheint. 8 Zum ironischen Unterton des Romans gehört es allerdings auch, dass die geschiedene und kinderlose Melusine das letzte Wort hat:»›Es ist nicht nötig, dass die Stechline weiterleben, aber es lebe/ der Stechlin «. 9 Ein möglicher Niedergang des Hauses und des Adelsgeschlechts verhindert of­fenbar nicht die Fortschreibung der Ursprungserzählung, ihre»semanti­sche Profileration« 10 , z. B. durch einen Roman. Zuvor hatte Melusine bereits an eine Lehre des Sees wie des Stechlin erinnert,»›den großen Zusammen­hang der Dinge nie[zu] vergessen‹«(29/320). Angesichts der glatten Hand­lung, gleichförmigen Bewegungen und dahinplätschernden Gespräche an der Oberfläche sind im See wie im Text Untiefen und Abgründe zu berück­sichtigen. 11 Im Folgenden soll an einem vermeintlich nachrangigen Handlungs­strang des Romans, der Agnes-Handlung, zum einen gezeigt werden, wie überkommene ordnungsstiftende Denkmuster von Generation und Genea­logie und damit verbundene soziale wie rechtliche Praktiken unter dem Vor­zeichen der Moderne ins Zwielicht geraten. Zum anderen geht es darum, die Entfaltung dieses Handlungsstranges im Kontext des Erzählverfahrens ge­nauer zu bestimmen. 12 Während auf der Handlungsebene Woldemars Ent­scheidung für die nach einer Bemerkung seines Vaters»›blasse‹«(36/368) Armgard ordnungsstiftend wirkt, konterkariert die Erscheinung des Kin­des, das durch seine ungeklärte Herkunft den Verstoß gegen die gesell­schaftlichen Institutionen geradezu verkörpert, diese Lösung. II. Die Gestaltung der Agnes-Handlung setzt nicht erst mit dem Auftritt der Figur ein, sondern wird durch die für den Roman konstitutive Form der Konversation vorbereitet. Melusines schillernder Hinweis auf»den großen Zusammenhang der Dinge« fällt im 29. Kapitel im Gespräch mit ihrem ebenbürtigen intellektuellen Gegenüber, Pastor Lorenzen, dem für sozial­demokratische Ideen aufgeschlossenen Vertrauten des alten Dubslav und Erzieher des jungen Woldemar. Der von Melusine wie von Lorenzen in die­sem Gespräch betriebene»›revolutionäre[] Diskurs‹«(29/324) über die Fol­gen des Wandels mündet in einer historisch außergewöhnlichen Einsicht des Pastors: »Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzu­nehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähig­keiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein.« »Und beinah auch umgekehrt«, lachte Melusine.»Doch lassen wir dies heikle Thema[]«.(29/321)