20 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Der Umstand, dass auf diese Antizipation einer hundert Jahre später populär gewordenen soziologischen These über die Moderne als Prozess der Individualisierung ›jenseits von Stand und Klasse‹ keine weiteren Erörterungen folgen, ist eine Konsequenz aus der Reflexionsform des Romans. 13 Indem Melusine das»heikle Thema« mit einer spielerischen Wendung abbricht, erfüllt sie das Gesetz der gesellschaftlichen Rede, das das Reden über die Moderne bestimmt. Erzählen findet in Fontanes Romanen bekanntlich unter den Bedingungen der Causerie statt. 14 Deren Bedeutung für Dubslavs Selbstverständnis hatte der ihm nahestehende Erzähler ihn bereits im 1. Kapitel des Romans programmatisch verkünden lassen:»›Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, dann sind sie langweilig‹«.(1/8) Im Stechlin begrenzt diese Fortschreibung einer klassischen ars conversationis als Verständigungsform der gehobenen Gesellschaft die für die Literatur des 19. Jahrhundert ansonsten auszumachende Inszenierung»sozialer Redevielfalt«(Bachtin ) im Roman. Zur Stechliner Gesellschaft gehört, wer die Regeln der Konversation beherrscht und sich im»ludischen Umgang mit Sprache« 15 übt. Für diese Causerien gilt die Norm, das Gespräch über Vergangenes und Gegenwärtiges durch eine taktvolle Wahl von Sprache und Thema aufrechtzuerhalten, um Anschlüsse zu ermöglichen, die ›Plauderei‹ nicht versiegen zu lassen. Das bedeutet in erster Linie die Vermeidung kontroverser Themen, die allenfalls durch Verknappungen und Verdichtungen salonfähig sind. Melusine zufolge könnten weitere Kommentare zu»Lorenzens Definition alles Modernen als Selbstbestimmung gegenüber dem Alten als Fremdbestimmung« 16 insofern ›heikel‹ werden, weil das offene Eingeständnis dieser historischen Zäsur auch eine existentielle Bedrohung der etablierten Kultur des Gesprächs nach sich ziehen würde. In eine Reihe von Passagen wird deutlich, wie im Rahmen der Narration die Themen der Moderne dem Gesetz des Gesprächs und seinen Regeln von Andeutung, dann Anknüpfung oder eben Abweisung untergeordnet werden sollen. Diese Erfahrung muss zu Beginn des Romans zum Beispiel Woldemars Regimentskamerad Rex machen, der ihn zusammen mit einem weiteren Kameraden, Czako, bei seinem Besuch auf dem Familienbesitz begleitet. Am Abend vor der obligatorischen Unterredung zwischen Dubslav und seinem Sohn über die leidige Heiratsangelegenheit kommen die drei Gäste aus Berlin gemeinsam mit den vom Schlossherrn dazu gebetenen vier örtlichen Honoratioren zu einem»Mahl«(3/34) zusammen. An der Tafel findet sich der biedere Rex, der über seinen Militärdienst hinaus sich anschickt, als Verwaltungsjurist in der Ministerialbürokratie Karriere zu machen, mit Woldemar und Pastor Lorenzen an einem Tischende wieder, während Dubslav mit dem bourgeoisen Ehepaar Gundermann auf der anderen Seite sitzt, Czako und Oberförster Katzler sind jeweils in der Mitte
Heft
(2022) 114
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