Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 21 placiert. Das Szenario wird diesmal von einer Erzählerstimme zusammen­gefasst: Sehr, sehr anders ging das Gespräch an der entgegengesetzten Seite der Tafel. Rex, der, wenn er dienstlich oder außerdienstlich aufs Land kam, immer eine Neigung spürte, sozialen Fragen nachzuhängen, und bei­spielsweise jedesmal mit Vorliebe darauf aus war, an das Zahlenverhält­nis der in und außer der Ehe geborenen Kinder alle möglichen, teils dem Gemeinwohl, teils der Sittlichkeit zugute kommende Betrachtungen zu knüpfen, hatte sich auch heute wieder in einem mit Pastor Lorenzen an­geknüpften Zwiegespräch seinem Lieblingsthema zugewandt, war aber, weil Dubslav durch eine Zwischenfrage den Faden abschnitt, in die Lage gekommen, sich vorübergehend statt mit Lorenzen mit Katzler be­schäftigen zu müssen, von dem er zufällig in Erfahrung gebracht hatte, daß er früher Feldjäger gewesen sei.(3/31) Für den Umstand, dass Rex mit seinem Themenvorschlag nicht durchdringt, sind mehrere Gründe auszumachen. So fällt mit dem Ausdruck ›soziale Fra­ge‹ das Stichwort der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzung, die kaum als geselliges Tischgespräch zwischen Einheimischen und Auswärti­gen taugt, und für die im Übrigen in der Ordnung des ›Zeitromans‹ mit den Wahlen zum Reichstag ein eigener Handlungsstrang reserviert ist. Im Rahmen der ›sozialen Frage‹ will Rex das aktuelle Problem der stei­genden Zahl unehelicher Kinder und die moralischen Folgen für die Gesell­schaft zur Diskussion stellen. Mit ihm sitzt ein moderner Verwaltungsbe­amter am Tisch, dem es kaum ums soziale Engagement geht, dem es aber sehr an Informationen über die Situation auf dem»Land« und an entspre­chenden Zahlenverhältnissen zu tun ist. Die Illegitimen sind für ihn ein symptomatischer Fall für die Anwendung und Nützlichkeit von statisti­schen Erhebungen, die den Aufstieg der Wirtschafts- und Sozialwissen­schaften zur Aufrechterhaltung des sozialen Ordnungsgefüges, des wie es heißt:»Gemeinwohls«, am Ende des 19. Jahrhunderts ermöglicht haben und sehr wahrscheinlich ist Rex»Lieblingsthema« auch mit eigenen Karri­ereplänen als Sozialmanager verbunden. Mit dem Versuch auf seiner Tischseite dieses Thema zu erörtern, begeht Rex also auch deshalb einen Verstoß gegen die Regeln der Causerie, weil er offensiv sein Interesse und seine Spezialkenntnisse in den Vordergrund rückt. Aber noch bevor die unmittelbar neben ihm Sitzenden, Lorenzen und Woldemar, darauf reagieren können, interveniert von der anderen Ta­felseite her der hellhörig gewordene Dubslav, schneidet quer über den Tisch »den Faden« ab und nötigt Rex zu einem belanglosen Gespräch mit dem Oberförster Katzler. 17 Dubslavs spontaner Eingriff in die Tisch- und Gesprächsordnung lässt sich nur unzureichend mit seiner Rolle als Gastgeber und Hüter der Ge-