22 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte sprächskultur erklären. Offensichtlich befürchtet er in unmittelbarer Nähe seines Sohnes Woldemar das Heraufziehen eines ›heiklen Themas‹, das mit demjenigen, welches Melusine und Lorenzen an ganz anderer Stelle im Roman nicht weiter erörtern wollen, durchaus korrespondiert: Die Erosion der ständischen Gesellschaft als ein Effekt der Freisetzung der Individuen in der Moderne nimmt angesichts der mutmaßlich steigenden Zahl illegitimer Kinder in beunruhigender Weise Gestalt an. Warum das Thema für Dubslav selbst ›heikel‹, womöglich kompromittierend werden könnte, erfährt man hier nicht – falls überhaupt der Lektürefluss durch diesen Vorfall am Tisch ins Stocken gerät. Dass man diesen leicht überliest, davor sorgt im Roman derjenige, der ihn in letzter Instanz überhaupt zur Sprache bringt, um dann doch wieder Diskretion zu wahren. Denn Dubslav gelingt es, den Faden erfolgreich abzuschneiden, weil ihm darin ein Erzähler assistiert, der mit ihm das Thema erst einmal fallen lässt und sich gegen seine sonstige Verfahrensweise entscheidet, aus der Vielzahl an Gesprächsgegenständen eine kontinuierlichen Motivkette zu knüpfen. Die Tischszene gehört zu den unscheinbaren Indizien für die Allgegenwart eines»implizit dargestellten Erzählers« 18 , der über die Technik des Gesprächs die Poetologie des Romans lenkt. In dem Maße, in dem im Stech lin die Gespräche und ihre Diskurse gleichsam auszuufern drohen, werden sie von»narrativen Ordnungsstrategien« 19 eben dieses Erzählers begrenzt. Mittels deutlicher Leserführungen, Kommentare, Schauplatzwechsel, Gesprächsbündelungen und Fokalisierungsvarianten macht er seine Verfügungsgewalt über die Erzählung geltend, im Vertrauen darauf, dass der von ihm installierte und kontrollierte discourse jederzeit gegen die in der story durchdringende Komplexität die Oberhand behält. 20 III. Unter diesen Voraussetzungen der Narration wird das ›heikle Thema‹ dann doch wieder an signifikanter Stelle regelrecht ans Licht gezerrt und womöglich kann man darin eine Probe auf die Belastungsfähigkeit des erzählerischen Verfahrens für die Handlungsebenen des Romans sehen: Die auf Ordnung zielende Handlung um die Eheschließung Woldemars wird durch einen Ambivalenzen erzeugenden Handlungsstrang relativiert. Nach einer ersten Andeutung und sofortigen Verhüllung möglicher Familiengeheimnisse im dritten Kapitel kommt es im 23. Kapitel – also exakt in der Mitte des Romans – zu einer folgenreichen Begegnung, die bereits auf das Ende vorausdeutet. Einerseits greift hier wie in vielen anderen Passagen das Verklärungskonzept des poetischen Realismus, der alte Dubslav stößt auf seine»Todesbotinnen« 21 , andererseits hat das zufällige Aufeinandertreffen auch profane Dimensionen. Die für die Gestaltung der Handlungssequenz bedeutsame Szene beendet das 23. Kapitel. Nach einem Gespräch mit dem Vertrauten Lorenzen
Heft
(2022) 114
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