Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 29 Irritation über das Mädchen wirkt noch nach, als sie als Botin der dubiosen Kräuterhexe ins Herrenhaus kommt. Im Gespräch mit dem Vertrauten En­gelke deutet sich dann eine Abkehr vom sozialen Determinismus an, mit dem sich Dubslav am See noch zufriedengeben wollte: »Ich glaube, daß sie[die Buschen; W. A.] viel auf´m Kerbholz hat, und daß die Karline so is, wie sie is, daran is doch auch bloß die Alte schuld. Und das Kind wird vielleicht auch noch so, sie dreht sich schon wie ´ne Puppe, und dazu das lange, blonde Zoddelhaar. Ich muß dabei immer an Bellchen denken, weißt du noch, als die gnäd´ge Frau noch lebte. Bell­chen hatte auch solche Haare. Und war auch der Liebling. Solche sind immer Liebling. Krippenstapel, hör´ ich, soll sie auch in der Schule ver­wöhnen. Wenn die andern ihn noch anglotzen, dann schießt sie schon los. Es ist ein kluges Ding.«(39/409) In dieser assoziativen Rede fehlt nur noch der Name Woldemars und Dubs­lavs erweitertes Familienporträt wäre vollzählig. 40 Es ist überhaupt einer der wenigen Stellen im Roman, in der die früh verstorbene Ehefrau und Mutter Woldemars Erwähnung findet. Über sie erfährt man nur den Kose­namen»Bellchen«, der sich in Verbindung mit einer»Puppe« zu einem frag­würdigen Erinnerungsbild fügt. Als hübsch herausgeputzte Puppe wird auch Agnes in ihrem blauen Wollkleid und den roten Strümpfen wahrge­nommen ein Weihnachtsgeschenk Karlines, wie der Erzähler anmerkt (vgl. 39/415), und noch Dubslavs aufgebrachte Schwester Adelheid bezeich­net sie als»diese Zierpuppe(schon ganz wie die Karline)«(39/419). Doch anders als seine Schwester Adelheid weiß Dubslav mittlerweile, dass das komplementäre Attribut der Weiblichkeitsimago einer schön anzusehen­den, aber ansonsten geist- und seelenlosen Puppe gerade nicht zutrifft. Ag­nes ›entpuppt‹ sich als intelligentes Kind, das vom Dorfschullehrer, wie Dubslav bereits erfahren hat, geschätzt und gefördert wird. Die Aufnahme im Haus wird metonymisch durch seine Öffnung mar­kiert. Die strikte Trennung zwischen Herrschafts- und Gesinderäumen wird für das Mädchen außer Kraft gesetzt, sie ist sowohl»unten in der Kü­che«(40/421) unterwegs, als auch in der Beletage, sie soll»›mit heraufkom­men und hier schlafen‹«(39/414). Wie andere mit dem Makel der Illegitimität versehene Figuren in der Literaturgeschichte Henry Fieldings Tom Jones oder Emily Brontës Heathcliff verhilft die unklare Herkunft Agnes poten­ziell zu einer privilegierten Beobachterposition, weil sie nicht mehr an ei­nen bestimmten sozialen Raum gebunden ist. Dieser Verstoß gegen die Hausordnung bleibt allerdings nicht ohne Wi­derspruch, der von Adelheid v. Stechlin vorgebracht wird. Gleich zweimal hintereinander stellt sie Dubslav die Frage, die sie mit dem Gerücht um Ag­nes´ Mutter verbindet:»Wie kommst du zu dem Kind?«(39/417). Für die an dieser Stelle erkennbare Verfugung des Handlungstranges um das illegiti­me Kind mit den dominanten Handlungsebenen des Romans lässt sich eine