32 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte fen« vor allem die Bedrohung durch das ›Gesocks‹ und die Furcht vor dem Pöbel in der Verwandtschaft. Sie vermag in Agnes nur das gefährliche Kind zu sehen, das die Filiation stört, in keinem Moment aber nimmt die mitleidlose Vorsteherin eines protestantischen Damenstifts das gefährdete Kind wahr. Die darauffolgenden drei Kapitel(40 – 42) vor dem Romanende greifen explizit auf den Verklärungsstil des poetischen Realismus zurück, indem sie das Sterben Dubslavs mit seiner Zuneigung zu dem Kind verbinden. Zwar tritt in diesen Kapiteln die Diskrepanz zwischen den von Adelheid auf das Kind projizierten sozialen und politischen Phobien und dem Verhalten des Kindes im Haus deutlich hervor, die erzählerische Anpassung der Figur bedeutet aber letztlich nicht ihre Integration in das Haus. Agnes ist zurückhaltend, ihr ›grault‹ es vor dem dahinsiechenden alten Mann, dem sie sich nur zögerlich zuwendet. Dubslav wiederum will sich im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens aus den Zwängen des eindimensionalen genealogischen Denkens lösen. Er umgeht die Problematik biologischer Vaterschaft ebenso wie die der rechtlichen Verwandtschaft und wendet sich der Idee einer sozialen Vaterschaft zu, wie sie maßgeblich in Lessings Nathan formuliert worden ist. 43 In der Tradition aufklärerischer Humanität stimmt er sich noch einmal darauf ein, das illegitime Kind Agnes zu instituieren. Diese Phase zum Romanende hin macht im Erzählkontext auf den Umstand aufmerksam, dass Dubslav für seinen legitimen Sohn Woldemar keinerlei Vater-Funktion übernommen hatte. Woldemar wurde, wie verschiedentlich betont wird, vom Pastor Lorenzen erzogen, den er liebt, weil»ich ihm alles verdanke, was ich bin«(15/180). Diese Leerstelle des symbolischen Vaters innerhalb der Familie Stechlin erklärt das reservierte Verhältnis zwischen Dubslav und seinem Sohn und sie zeigt sich noch in der irritierenden Abwesenheit bei der späteren Beerdigung des Alten, die durch die Unerreichbarkeit des Paares während ihrer Hochzeitsreise erzählerisch plausibel gemacht wird. Dubslavs Bemühungen, am Ende seines Lebens diese Leerstelle doch noch zu besetzen, erschöpfen sich allerdings in der hilflos anmutenden Versorgung des Kindes mit Bildern aus Zeitschriften, Spielzeug und Büchern – Erwähnung findet bezeichnenderweise eine»Götterlehre«(40/428). Die Unfähigkeit des Alten zur väterlichen Autorität offenbart sich aber vor allem darin, dass die Sprache als Instrument der Instituierung ausfällt. Die Causerien stellen offenkundig keinen pädagogischen Leitfaden dar; die Passion für Zweideutigkeiten und Paradoxien ist mit der Anwesenheit des Kindes im Haus kaum vereinbar. Sie erlauben es allenfalls – wie im Disput mit der Schwester deutlich wurde – mit der Vaterschaft zu spielen, aber nicht, sich ernsthaft in die Position des Vaters zu versetzen. Während Agnes´ Herkunft in der Sphäre des Kontingenten verbleibt, verweist ihre Präsenz unversehens auf die von Dubslav geleugneten»unanfechtbaren Wahrheiten«. Wo
Heft
(2022) 114
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