34 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte VI. Die Literaturgeschichte der Illegitimen beginnt im 19. Jahrhundert am Ursprungsort ihrer gesellschaftlichen Ächtung, in einer Kirche, und sie endet im Stechlin wiederum dort.»Wer ist der Vater zu diesem Kinde?« 46 ruft in Kleists Das Erdbeben in Chili(1807) der Schuster Pedrillo in die zum Dankgottesdienst versammelte Menge, die, aufgestachelt durch die Strafpredigt des Chorherrn, nach einem Sündenbock für die Katastrophe sucht. Es ist das Kind Juan, das mit seinem Weinen die spannungsgeladene Stille durchbricht und ungewollt das Fanal zum Massaker gibt. Die Menge der Gläubigen verwandelt sich in eine blindwütige Meute, die»den Bastard zur Hölle« schicken will, aber mit Juan scheinbar zufällig den legitimen Sohn des Don Fernando grausam tötet, während der zähe,»kleine Fremdling« und eigentliche Bastard Philipp überlebt und als»Pflegesohn« angenommen wird. 47 Kleists Novelle öffnet den Blick in einen Abgrund des Filiationsgeschehens, das die Generationenkette nicht mehr schließt und Vaterschaft nicht mehr an das Zeugen von Nachkommenschaft bindet, sondern die Ungewissheiten zwischen Herkunft und Zukunft herausstellt. 48 In Fontanes Stechlin geht es neunzig Jahre später auf einer zivilisierteren Stufe erbarmungslos zu. Bei der Beerdigung Dubslavs in der Stechliner Dorfkirche, die ohne den Erben Woldemar und seine Braut stattfindet, sorgt eine Bemerkung in der Würdigung des Pastor Lorenzen für Irritationen unter den Anwesenden:»Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind.«(43/449) Fast scheint es, als habe Fontane mit seiner Figur die Konsequenz aus Kleists Katastrophengeschichte und dem im Verlauf des Jahrhunderts immer größer gewordenen Hiatus in den Filiationsprozessen ziehen wollen. Als»ein Mann und ein Kind« verweigert sich Dubslav dem ihm in der patriarchalisch-genealogischen Ordnung zugewiesenen Platz in der Generationenkette. An die Stelle der Filiation tritt eine paradoxe Inversion von Generativität, die sich sowohl gegenüber dem legitimen wie einem möglicherweise illegitimen Kind der Verpflichtung auf Vaterschaft entzieht, sie allenfalls erprobt. Hierfür steht die Agnes-Episode im Roman. Das Scheitern der Instituierung zeigt, dass die Basisopposition von Altem und Neuem, die durch die narrative Ordnung im Roman eigentlich vermittelt werden sollte, durch subversive Handlungselemente noch bekräftigt wird – zur Größe des Romans gehört, dass er die Anzeichen der Risse vorderhand der politischen Verhältnisse, aber viel tiefgreifender in der genealogischen Denkform nicht einfach verschweigt, sondern, wie verhalten auch immer, als Memento in das Geschehen mit aufnimmt. Anders als Kleists Erdbeben vermeidet Fontanes Stechlin ein spektakuläres Finale. Die in der Kirche Versammelten dulden stillschweigend die Anwesenheit des Bastardkindes, dessen Weinen keinen Tumult mehr auslöst, aber auf andere, subtilere Weise das bittere Ende einleitet:
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(2022) 114
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