50 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente the real world.« 31 Literarische Texte machen sich dabei die körperlich-multisensorische Dimension von Sprache auf eine Weise zunutze, dass sie in der Leser*in nicht nur entsprechende sensorische Resonanz auslösen, sondern auch ein Gefühl des Flows 32 des eigenen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozesses beim Lesen erzeugen. Der Text gibt der Leser*in durch seine Anordnung sensorischer Eindrücke gleichsam das Gefühl zu wissen, worauf sie als nächstes achten muss. 33 Der kompositorisch bereits detailliert ausgearbeitete Text Auf dem Flachdach oder Mir gegenüber(F I, 402–403) lässt sich als spannendes Beispiel dafür betrachten, wie Fontane von einem einprägsamen Bild bzw. SehEreignis nicht nur zu einem Erzählfluss kommt, sondern auch zu einer Textkomposition, die der Leser*in einen ebensolchen designed sensory flow bietet. Wie die editorischen Erläuterungen deutlich machen, lässt sich das 6 Blatt Folio umfassende, mit Tinte und Bleistift geschriebene und überarbeitete Manuskript als ›zweifacher Ansatz‹ beschreiben(vgl. F II, 329). Im ersten kurzen Text Auf dem Flachdach wird die Szenerie im Sinne eines zum Tableau komprimierten ›bewegten Bildes‹ kreiert: Abend. Der Tag der 3 Mädchen auf dem Dach. Die 4. Figur, die ⌐ Minerva Statue mit Speer und dem ⌐ erhobenen Lorbeerkranz, steht im Hintergrunde. Und zuletzt tanzt sie mit. Dann dämmerte es, die Statue stand wieder still und auf dem Dache saß eine, die die grazilste gewesen war, mit einer Handarbeit und während sie den langen Faden zog blinkte Nadel u. Faden in dem Roth, das am Abendhimmel stand. Gewölk stand am Himmel und der Mond als blasser schwacher schmaler Ring. Unter dem saß sie jetzt und nähte und mitunter blinkte die Nadel.(F I, 402) Das entscheidende narrative Ereignis der Szene – die scheinbar tanzende Statue – erscheint hier als noch kaum in den Vordergrund gerückt. Im zweiten, längeren und stark überarbeiteten Textabschnitt Mir Gegenüber(F I, 402–403) wird das szenische Bild jedoch in eine Erzählung überführt, die nun den Wahrnehmungsprozess des Erzähler-Beobachters und damit auch dessen Erleben der eigenen Fehlwahrnehmung ins Zentrum stellt: Ich sah wie jeden Abend so auch gestern in die sinkende Sonne die mir gegenüber niedergeht, als ich, just an der Stelle wo die ⌐ kleine Dachtreppe mündet, die drei Mädchen wie aus einer Versenkung heraufsteigen und auf das Flachdach hinaustreten sah. Sie waren einfach aber doch sonntäglich gekleidet und die schlankeste von ihnen, eine jugendliche Blondine, trug eine hellblaue Blouse. Sie schritten auf und ab als ob sie nur vorhätten des wunderschönen Abends ⌐ im Auf und Abgehn zu genießen, als das Abendroth aber als die Sonne aber hinschwand und die Dämmerung bläulich heraufzog,|verbeugten sich die beiden Brünetten gegeneinander und begannen gleich danach nicht
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(2022) 114
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