Heft 
(2022) 114
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Vom Bild zur Bewegtheit, vom Fragment zum Flow  Igl 51 ohne Grazie in einem ­engem Kreise zu walzen, während die Blondine, die dabei die Arme in die Seite stemmte ­den engen Kreis der beiden Mitschwestern in einem weiteren Zirkel zu um schreiben begann. Es war des Reizes genug, aber ein anmuthiges Bild, aber was wer ­beschreibt mein Staunen als ich plötzlich eine vierte Gestalt und zwar Niemand Geringeres als der Minerva selbst, anscheinend mittanzend, ­sich in den Reigen der drei Tanzenden ­mit einschlingen eintreten ­und wenn sichs gerade so traf den Kranz über der hübschen Blondine halten sah. Endlich schienen alle die drei Mädchen ­ermüdet und nahmen Platz auf einem eine Fußhoch aufgemauerten ­Essenrand, der das Flach­dach nur um Fußhoch überragend, einen bequemen Sitzplatz bot, man ruhte sich und auch Minerva aber, den erhobnen Kranz in der Hand, stand­ stand wieder ruhig da, immer noch den Kranz in Händen. Es war eine schöne Täuschung gewesen.(F I, 403) Das bewegt-theatrale Bild der tanzenden Minerva-Statue wird hierbei zur Szenerie der vom Erzähler-Beobachter erlebten Sinnestäuschung entfaltet, in der der Fokus der Erzählung sich immer wieder vom Betrachteten auf den als sensory flow inszenierten Akt des Betrachtens verschiebt. Insgesamt führt das Fragment in seinen beiden Über- bzw. Ausarbeitun­gen(vgl. F II, 329) anschaulich vor, wie ein ›bewegtes Bild‹ als Ausgangs­punkt sowohl einer Narration als auch eines poetisch-realistischen Wahr­nehmungsszenarios dienen kann. Das Flachdach-Fragment erweist sich dabei als im doppelten Sinne prototypisch: einerseits mit Blick auf das, was Paech mit seinem Ansatz zum ›filmischen Erzählen‹ als spezifische Strategie der narrativen Dynamisierung von Wahrnehmung im poetischen Realismus beschrieben hat; andererseits in Bezug auf die Ausgestaltung von(Erzäh­ler-)Beobachter-Positionen, die innerhalb des Realismus-Paradigmas al­lem ›In-Bewegung-Setzen‹ zum Trotz generell als statisch konzipiert sind. 34 Der designed sensory flow ist in der narrativen Verfahrensweise des poeti­schen Realismus anders als etwa in postmodernen Narrationsweisen an ein ›stabiles‹ und perspektivisch-sensorisch wie epistemisch in letzter Instanz verlässliches Wahrnehmungssubjekt rückgebunden. Von dieser gesicher­ten Position aus lässt sich dann auch ein Prozess der visuellen Sinnestäu­schung als ein sensory flow gestalten, der die Aufmerksamkeit der Leser*in ohne harsche Brüche und Fehlerkorrekturen an den vermeintlich getäusch­ten Sinneswahrnehmungen des Erzählers entlangführt. In Fontanes Sinne sollte die geneigte Leser*in dem so erzeugten Fluss»in jedem Augenblick unter freudiger Zustimmung folgen«(F I, 429) können.