72 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente ›Roman aus dem Sommer 1864‹ zeichnet sich ab, justiert auf das Jahr 1849 und seine Folgen, ein brisanter Stoff, gewoben aus zwei Medienereignissen des 19. Jahrhunderts, eine Geschichte mit großer Liebe und mehreren Ehen, allerlei Theaterszenen und nachbebender Politik. Ein heißes Eisen voller Reizwörter, die sowohl George Meredith ( The Tragic Comedians, 1882) als auch später Stefan Heym ( Uncertain Friend, 1968, dt. Lassalle, 1969) zur Verarbeitung lockten, nicht aber Fontane, der das Projekt bedeutend umfassender anlegte als seine Kollegen, aber – glücklicherweise(?) – ruhen ließ. Worum geht es? Begleitende Äußerungen Fontanes in Briefen oder Tagebuch, die über Anlass, Absicht und Entstehung dieses Projekts informieren könnten, gibt es nicht. Als ganz allgemeiner Rahmen kann gelten, was Fontane über seine Neigung,»Novellenstoffe« für»kleine[] Lebensbilder« 6 zu sammeln, gesagt hat. Demnach handelt es sich nicht um ein Fragment, sondern um einen vollständigen Text, der ein ›Lebensbild‹ skizziert. Vorausgesetzt, dass der überlieferte Text in einem Zuge niedergeschrieben wurde(die eine Hinzufügung kann als Sofortergänzung, die andere als Fortführung einer Notiz gewertet werden, die am unteren Seitenende keinen Platz mehr fand 7 ), ergibt sich aus inneren und äußeren Kriterien eine vage Datierung zwischen 1877 und 1888 (s. F II, 286). Das heißt, die Notiz gehört in eine dichte Arbeitsphase vieler wahrgenommener und archivierter Ereignisse und Mitteilungen, die bei Bedarf poetisch und ›schrifthändlerisch‹ verwertet werden können. Wenn Fontane diesen Titel in einem Konvolut abgelagert hat, das er»Novelletten, Kleine Erzählungen« überschrieben hat und wenn darin hauptsächlich Vorarbeiten zu Von vor und nach der Reise enthalten sind, 8 so kann dies als Hinweis gewertet werden, der sowohl die Entstehungsgeschichte als auch das beabsichtigte Format des zukünftigen Projekts betrifft. Demnach könnte es sich gleichfalls um eine»kleine«»Plauderei« während einer »Reise« handeln(nach dem Modell der Begegnungsnovelle mit rätselhafter bzw. unerwarteter Begegnung und anschließender Aufklärung; s. Der Karrenschieber von Grisselsbrunn). Und eine solche kleine Reisegeschichte ließe sich auch als eine der Stoffquellen identifizieren, in der die berühmt-berüchtigte Hauptfigur indirekt im Gespräch während einer Schiffsreise eingeführt und ins rechte Licht gerückt wird. In späteren Begegnungen gesteht sie selbst ihre»unbändige Reiselust« 9 ein und erzählt, was sie sonst noch erlebt hat bzw. gerade tut. Schon auf den ersten Blick wird klar, dass Fontanes vorliegende Skizze weit über eine ›kurze Plauderei‹ und ein ›kleines Lebensbild‹ hinausgeht und eher einen biographisch ausgreifenden Zeitroman aus der»Reactions=Periode«( Storch von Adebar, F I, 200) mit ihren epochalen Folgen und weiträumigen Bewegungen ins Auge fasst(vgl. auch Die preußische Idee). Dieser Erzählzweck überschreitet deutlich auch jenen Informationshorizont, den Fontane aus der Rechtfertigungsschrift seiner Heldin Meine Beziehungen zu Ferdinand Lassalle 10 gewinnen konnte.
Heft
(2022) 114
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