Heft 
(2022) 114
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Dankesrede  Sagarra 147 Trollopes Phineas Finn, ein exzentrischer Ire oder gar ein seinen Trieben ergebener Trunkenbold. Fontane hingegen hat die Gewohnheit, seine Men­schen in ihrer Selbstverständlichkeit darzustellen, Effis Roswitha ebenso wie den höheren Staatsbeamten und maliziösen Opportunisten Hedemeyer am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala in Cécile . Wie wunderbar weiß Fontane die deutschen Katholiken seiner Epoche zu zeichnen, so, wie sie sich und wie andere sie sehen und süffisant kategorisieren. Das gelingt ihm meisterhaft mit einem einzelnen Satz, etwa im Wort des Oderbruch­bauern Kunicke in Unterm Birnbaum, wenn dieser gönnerhaft meint, seine katholischen Mitbürger seien doch»bei Licht besehen auch Christen«. 6 Fontanes Erzählwerk lässt uns den Mentalitätswandel der Menschen in den Anfangs- und mittleren Jahren des Zweiten Kaiserreichs nachvollzie­hen und gibt uns Einblick in die tieferen Ursachen des Aufstiegs Deutsch­ lands zur Weltmacht. Und zwar nicht mehr vornehmlich durch ›Blut und Eisen‹, 7 sondern dank Technik und Wissenschaft. In einer zentralen Stelle des Stechlin-Romans formuliert es Lorenzen im Gespräch mit Melusine wie folgt:»Aus der modernen Geschichte, der eigentlichen[] verschwinden die Battaillen und die Battallione[]. An ihre Stelle treten die Erfinder und Entdecker, und James Watt und Siemens bedeuten uns mehr als du Gues­clin und Bayard.« 8 Mit subtilen Anspielungen in Cécile und im Stechlin nimmt Fontane dabei Bezug auf die Rollen, die die Kommunikationsrevolu­tion und die hochkarätige Industrie, Elektrotechnik, Chemie, Optik, im Ge­schichtsprozess spielen. 9 Diese Darstellung einer ›Zeitgeschichte von innen‹ ist für mich exempla­risch für Fontanes Erzählkunst. So etwa seine Gestaltung des Phänomens Bismarck, so die der politischen und sozialen Institutionen des Kaiserreichs, wie sie funktionieren, von den Zeitgenossen wahrgenommen und beurteilt werden und wie sich die Menschen dabei in ihren Vorurteilen verraten. Überhaupt: So viel Geschichte, gerade in den Nebenfiguren, wie sie bei­spielsweise in dem unbequemen deutsch -preußischen Verhältnis der Witwe Marzahn mit ihrem»selge[n] Marzahn« im Gedicht Fritz Katzfuss oder in Dubslavs Engelke im Stechlin aufscheint, der»einen roten Streifen« an die preußische Flagge annähen will, sich aber Dubslavs Widerwillen beugen muss:»Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch, aber wenn du was rotes dran nähst, dann reißt es gewiß.« 10 So nimmt es nicht wunder, dass sich so viele namhafte Historiker mei­ner Generation, etwa Hans-Ulrich Wehler , Gordon Craig , Felix Gilbert , 11 Thomas Nipperdey oder der jüngere David Blackbourn , in ihren histori­schen Darstellungen Deutschlands im 19. Jahrhundert auf Theodor Fonta­ ne beziehen. Und ich, je mehr ich las und mich mit Fontanes unvergleichli­cher Kunst der Andeutung befasste, desto mehr meinte ich, der deutschen Sozial- und Mentalitätsgeschichte von damals in all ihrer Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit näherzukommen. Denn ganz anders als seine er-