Carl August Varnhagen und Charlotte Williams Wynn Kittelmann 171 Varnhagen und Thomas Carlyle , oder bestätigten sich in ihrer Bewunderung und Vorliebe für die Klassiker Goethe , Schiller und Herder. Varnhagens Ausführungen zum Jungen Deutschland korrespondieren mit Wynns brieflichen Darstellungen der Bewegung des Young England. Mit Kritik hielt sich keiner der beiden zurück. Varnhagen äußerte unverhohlen seine Abneigung und Skepsis gegenüber Gegenwartsautoren wie Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath , vor deren Schriften er seine englische Freundin sogar warnte. Seine Briefe der 1840er-Jahre strotzen Sprengel zufolge vor negativen Pauschalurteilen(S. 263). Deutlich zugewandter gestimmt, aber auch nicht gerade höflich, liest sich hingegen Varnhagens Beschreibung der von ihm eigentlich geschätzten Bettina von Arnim , die er als nervös umherspringendes und aufgekratztes»Eichhörnchen«(S. 270) schilderte. Der Gesprächsstoff ging Varnhagen und Williams Wynn auch deshalb nie aus, weil sich die beiden fortwährend mit gegenseitigen Büchersendungen versorgten. Ein Bücherpaket fiel besonders opulent aus. Im September 1840 sandte Varnhagen seiner Freundin unter anderem eine mehrbändige Kant-Ausgabe, die von Werken Hegels und Schleiermachers sowie von Schriften von Leibniz und Gans begleitet wurde(S. 258). Ein Jahr bevor das Buchpaket seine Reise nach England antrat, war es zu einem dramatischen Wendepunkt in der Korrespondenz gekommen. Über die Jahre hatte sich Varnhagen in Charlotte verliebt und auch sie fühlte sich zu dem schöngeistigen Publizisten, der wunderbar gefühlvolle Briefe schreiben konnte, hingezogen. Aus dem ursprünglichen»Kulturvermittlungsauftrag«(S. 31), den Varnhagen zunächst in seinen Briefen verfolgte, war eine intensive Zuneigung erwachsen, die dieser nur zu gern in eine feste Bindung mit Charlotte münden lassen wollte. Die gesellschaftlichen Konventionen und Standesunterschiede ließen das freilich nicht zu. Die»maßlosen Liebeswünsche des mittellosen Dichters«(S. 148) mussten eine Illusion bleiben und durften nicht auf Erfüllung hoffen. Minutiös, spannungsreich und berührend schildert Sprengel, wie sich Varnhagen nach einer erneuten Begegnung und einem gemeinsamen Kuraufenthalt im Sommer 1839 in Wiesbaden ein Herz fasste und Charlotte einen Heiratsantrag auf grünem Briefpapier machte, den sie allerdings kurze Zeit später ablehnte. Charlotte, die ehelos blieb, wurde nicht seine ›zweite Rahel‹. Trost über den gescheiterten Versuch fand der unglückliche Varnhagen wiederum in der Literatur. Er verglich sich mit Goethes unglücklich verliebtem Tasso, erklärte Charlotte zu seiner Ulrike von Levetzow (S. 132 f.). Immer wieder spiegelten die beiden ihre spannungs- und emotionsreiche Beziehung fortan in literarischen Vorbildern. So etwa in der 1848 erschienenen, von Adolf Schöll besorgten Edition der Briefe Goethes an Charlotte von Stein , die auch anderen briefschreibenden Liebespaaren, wie zum Beispiel Adolf Stahr und Fanny Lewald , die Williams Wynn während deren Reise durch England persönlich kennenlernte(S. 283–287), als Reflexionsfläche dienten. Außerdem
Heft
(2022) 114
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten