Heft 
(2022) 114
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Carl August Varnhagen und Charlotte Williams Wynn  Kittelmann 171 Varnhagen und Thomas Carlyle , oder bestätigten sich in ihrer Bewunde­rung und Vorliebe für die Klassiker Goethe , Schiller und Herder. Varnha­gens Ausführungen zum Jungen Deutschland korrespondieren mit Wynns brieflichen Darstellungen der Bewegung des Young England. Mit Kritik hielt sich keiner der beiden zurück. Varnhagen äußerte unverhohlen seine Abnei­gung und Skepsis gegenüber Gegenwartsautoren wie Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath , vor deren Schriften er seine englische Freundin so­gar warnte. Seine Briefe der 1840er-Jahre strotzen Sprengel zufolge vor ne­gativen Pauschalurteilen(S. 263). Deutlich zugewandter gestimmt, aber auch nicht gerade höflich, liest sich hingegen Varnhagens Beschreibung der von ihm eigentlich geschätzten Bettina von Arnim , die er als nervös umher­springendes und aufgekratztes»Eichhörnchen«(S. 270) schilderte. Der Ge­sprächsstoff ging Varnhagen und Williams Wynn auch deshalb nie aus, weil sich die beiden fortwährend mit gegenseitigen Büchersendungen versorg­ten. Ein Bücherpaket fiel besonders opulent aus. Im September 1840 sandte Varnhagen seiner Freundin unter anderem eine mehrbändige Kant-Ausga­be, die von Werken Hegels und Schleiermachers sowie von Schriften von Leibniz und Gans begleitet wurde(S. 258). Ein Jahr bevor das Buchpaket seine Reise nach England antrat, war es zu einem dramatischen Wendepunkt in der Korrespondenz gekommen. Über die Jahre hatte sich Varnhagen in Charlotte verliebt und auch sie fühlte sich zu dem schöngeistigen Publizisten, der wunderbar gefühlvolle Briefe schrei­ben konnte, hingezogen. Aus dem ursprünglichen»Kulturvermittlungsauf­trag«(S. 31), den Varnhagen zunächst in seinen Briefen verfolgte, war eine intensive Zuneigung erwachsen, die dieser nur zu gern in eine feste Bindung mit Charlotte münden lassen wollte. Die gesellschaftlichen Konventionen und Standesunterschiede ließen das freilich nicht zu. Die»maßlosen Liebes­wünsche des mittellosen Dichters«(S. 148) mussten eine Illusion bleiben und durften nicht auf Erfüllung hoffen. Minutiös, spannungsreich und berüh­rend schildert Sprengel, wie sich Varnhagen nach einer erneuten Begeg­nung und einem gemeinsamen Kuraufenthalt im Sommer 1839 in Wies­baden ein Herz fasste und Charlotte einen Heiratsantrag auf grünem Briefpapier machte, den sie allerdings kurze Zeit später ablehnte. Charlotte, die ehelos blieb, wurde nicht seine ›zweite Rahel‹. Trost über den gescheiter­ten Versuch fand der unglückliche Varnhagen wiederum in der Literatur. Er verglich sich mit Goethes unglücklich verliebtem Tasso, erklärte Charlotte zu seiner Ulrike von Levetzow (S. 132 f.). Immer wieder spiegelten die bei­den ihre spannungs- und emotionsreiche Beziehung fortan in literarischen Vorbildern. So etwa in der 1848 erschienenen, von Adolf Schöll besorgten Edition der Briefe Goethes an Charlotte von Stein , die auch anderen brief­schreibenden Liebespaaren, wie zum Beispiel Adolf Stahr und Fanny ­Lewald , die Williams Wynn während deren Reise durch England persön­lich kennenlernte(S. 283–287), als Reflexionsfläche dienten. Außerdem