LITERATURGESCHICHTE / INTERPRETATION
Peter Wruck, Berlin
Die Marseillaise im Sonntagsverein.
Europäische Nationallieder und Nationalhymnen auf dem 13. Stiftungsfest des Berliner "Tunnel über der Spree" im Jahre 1840*
I
Im Tunnel-Kapitel seiner Memoiren vermerkte Fontane: „ Natürlich hatte der Tunnel auch seine Feste, die, gerade während der Zeit seiner Blüte, mit Regel mäßigkeit wiederkehrten. Faschingsfest, Stiftungsfest und ein Fest des Wettbewerbs oder der Preisdichtung. Letzteres eine Art Sängerkrieg." 1 Die Faschingsfeste liefen sonst - auch in den Statuten 2 - gewöhnlich unter der Bezeichnung Eulenspiegelfest, weil sie dem Schutzpatron des Vereins gewidmet waren. Beim Stiftungsfest feierte der Verein sozusagen Geburtstag. Es fand Jahr für Jahr am 3. Dezember statt, weil an diesem Tage 1827 der Tunnel ins Leben gerufen wurde. Die poetischen Konkurrenzen - die Fontane rückblickend noch über die Stiftungsfeste stellte, während er den närrischen Veranstaltungen nicht viel abgewann - wurden zeitweise sogar mehrmals, im Frühjahr und im Herbst, ausgetragen.
Fontane fand die Festfreudigkeit des Tunnels natürlich, weil das 19. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert der Vereine war, in denen sich die der Ständegesellschaft entwachsenden Individuen aus freien Stücken und in immenser Vielfalt untereinander assoziierten. 3 Es war auch ein Jahrhundert der Feste, die mit dem Vereinswesen oft aufs engste zusammenhingen. Zu Beginn des Zeitraums das Wartburgfest oder an seinem Ende die großen Geburtstagskommerse und -auf- züge für Wilhelm I. und Bismarck waren das Werk studentischer Verbindungen. Die Kölner Dombaufeste, die unter dem Patronat Friedrich Wilhelm IV. zustande kamen, wurden von dem weitgespannten Netz der Dombauvereine getragen. Die Turner-, die Sänger- und Schützenvereine gingen von lokalen Veranstaltungen zu großen regionalen und überregionalen Zusammenkünften über und begründeten damit Traditionen, von denen sich manche bis heute fortsetzen. Zu den Gedenk-, insbesondre den Dichterfeiern und den Künstlerfesten gesellten sich die ersten Festspiele, und den kirchlichen Feiertagen des Jahreszyklus wurde der 1. Mai an die Seite gestellt.
Diese Feste waren auf die Herstellung von Öffentlichkeit gerichtet und vereinten große Gemeinschaften. Häufig dem nationalen Gedanken verpflichtet, waren
* Dieser Beitrag und die beiden folgenden gründen sich auf Vorträge, die während des 2. Fontanetages der Sektion Germanistik der Humboldt-Universität Berlin 1990 gehalten wurden.
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