Tonband-Mitschnitt erfolgte, fühlte sich niemand verlockt, gleichsam ex cathedra zu sprechen. Wer an das Zeremoniell gewöhnt war, das jahrzehntelang die meisten vergleichbaren Veranstaltungen hierzulande prägte und beherrschte, der mußte von dieser lockeren Form des wissenschaftlichen Disputs besonders angenehm berührt sein. Den Lesern des hier zu besprechenden Bandes wird freilich nur ein Teil der Veranstaltung dokumentarisch dargeboten, allerdings der substantiellste und ergiebigste. Die Herausgeber waren gut beraten, als sie sich für den Verzicht auf irgendeine Zusammenfassung oder Bewertung der Diskussionen entschieden; davon hätte sich ebensowenig vermitteln lassen wie von der lebendigen, aufgeschlossenen, ja - trotz der mitunter kontrovers geführten Debatten - geradezu freundschaftlichen Atmosphäre. Ergebnisse der Diskussion sind in einigen Fällen in die hier gedruckten überarbeiteten Fassungen der Referate eingearbeitet worden.
Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Wolfgang Preisendanz; seine Überschrift - »Theodor Storm: Novellistik im Zeitalter des Romans' - lenkt den Blick auf den übernationalen europäischen Kontext, nämlich darauf, daß die Novelle, wie sie Storms Prosa-Schaffen prägt, »ein Seitenweg der literarischen Evolution war", „un genre à l'ombre du roman'. Preisendanz' Hauptthese, die Stormsche Novellistik sei weniger gekennzeichnet durch ihre Herkunft aus dem lyrischen Werk des Autors noch durch ihre Verwandtschaft mit der dramatischen Gattung - wie Storm selbst wiederholt behauptet hat -, sondern durch ihren Bezug zur mündlichen Erzähltradition: diese beachtenswerte These sollte künftigen Interpreten Stormscher Novellen als wichtiger Hinweis dienen.
Im Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Literaturentwicklung betrachtet auch Clifford A. Bernd Storms »Poetischen Realismus", wobei er vor allem die enge Verwandtschaft des Erzählers Storm mit den dänischen Autoren Möller und Blicher betont. Die Bemerkungen über Trennendes und Verbindendes zwischen Storm und den russischen, französischen und englischen Realisten der Zeit sind allerdings zu knapp und zu pauschal, um recht überzeugen zu können. Als Ergänzung und partiell auch als Präzisierung oder Rektifizierung von Bernds globaler Einschätzung liest sich Jean Royers Text über „Storms Verhältnis zum französischen Realismus des 19. Jahrhunderts", der allerdings mehr durch den Nachweis zahlreicher minuziöser komparatistischer Details besticht
- auf zwölf Seiten finden sich 99 Fußnoten! - als durch theoretische Verallgemeinerungen (auf die es Bernd vorrangig ankam). Gleichwohl verdient der
- von Royer freilich selbst wieder relativierte - Satz Beachtung, daß Storm »von Flaubert und Zola nicht so weit entfernt ist, wie man bisher angenommen hat".
»Theodor Storm und das Groteske' ist das Thema von David Artiss, und zwar »auf dem Hintergrund der Literatur des 19. Jahrhunderts: von Hoffmann und Heine bis Kafka und Hesse". Der Autor subsumiert unter den (unscharfen) B e ' griff des Grotesken sowohl die »phantastischen' Gestalten der Märchen (Hin - zelmeier, Regentrude, Feuermann, Bulemann) wie auch die „realistischen' . .. Originalfiguren und exzentrischen Käuze". Indem er aber, als Beispiele für die
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