Kommentar: »Seine (Fontanes — V. G.) kritische Position, die negative Erscheinungen im Staatswesen (wie Bürokratie und Militarismus) deutlich macht und vor allem durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingte Folgen (Persönlichkeitsentwertung, Entfremdung, Immoralität) gestaltet, ist von zentraler Bedeutung für F.s Romanschaffen.' (s. S. 124) .... ,L'Adultera' (1882) stellt ... die alteingesessene Großbourgeoisie bloß, ,Frau Jenny Treibel oder Wo sich Herz zum Herzen find't' (1892) die Besitzgier der Parvenüs der Gründerjahre, «Mathilde Möhring'... das Kleinbürgertum in seinem rücksichtslosen Aufstiegsstreben und seiner philiströsen Enge... ,Effi Briest' entlarvt die Gesellschaftsmoral der oberen Schichten als inhumane Maschinerie ... Witwe Pit- telkow ... und ... Lene Nimptsch..., prächtige, lebensvolle Gestalten aus dem Volke. .., sind der preußischen Herrenschicht und der Bourgeoisie als überlegen dargestellt. Während die neureiche Bourgeoisie Zielscheibe beißenden Spottes ist, wird nur dem .vierten Stand' mit seiner Natürlichkeit, Tüchtigkeit, seelischen Größe und moralischen Überlegenheit Zukunft vorausgesagt.' (S. 125)
Auch die einzige längere Neupassage, die die besondere Qualität des Fontane- schen Erzählens zu fassen versucht (S. 123 f.) und die in der durchaus akzeptablen These vom »Typus des analytischen illusionszerstörenden Roman (s) (S. 124) mündet, bleibt im Gesamtumfeld ohne weitergehende konkrete Abstützung, zu schwach und marginal. Eine annehmbare Neubewertung ist damit leider noch nicht erreicht. Und obwohl der biographische Teil seinen Informationswert durchaus besitzt, ist vor einer ernsthaften Benutzung dieses Artikels eigentlich nur zu warnen, es sei denn, man versteht ihn als das zu lesen, was er einzig noch ist: ein historisches Dokument, reif fürs Literaturmuseum.
Staunen wie Anerkennung gleichermaßen überfällt einen, wenn man sich das Mammutprojekt des Bertelsmann-Verlages München vor Augen hält, das insgesamt auf 15 großformatige und dickleibige (über 500 S.) Bände konzipierte » Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache’ (Hrsg. Walter Kilty)- Ein wahrhaft enzyklopädisches Unterfangen. Die ersten drei Bände sind mittlerweile erschienen (1988/89). Der Fontane-Artikel (6 Seiten) liegt somit bereits vor. Geschrieben hat ihn ein Schriftsteller: Günter de Bruyn. Eine gute Wahl, wie sich zeigen sollte, und nicht nur allein deshalb, weil Fontane und de Bruyn von ihrer Profession wie ihrer besonderen Beziehung zur Mark Brandenburg und Berlin her so etwas wie Wahlverwandschaft verbindet.
An den Anfang gesetzt hat de Bruyn einen wohltuend übersichtlichen und ausgewogenen, dabei doch knapp gehaltenen biographischen Abriß, der nicht jedem Detail nachjagt, sondern die wichtigsten Lebensetappen markiert und den Werdegang Fontanes in den Umbrüchen einer Persönlichkeitsentwicklung zwischen subjektiver Motivation und äußerer Bestimmung - zu zeigen versucht. Damit ist gleichzeitig der Weg frei gemacht und vorgezeichnet für den Hauptteil des Artikels, die Darstellung der künstlerischen Genese, die in punktueller, aber steter Korrespondenz zum Biographischen gehalten wird. Dem
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