Die literarischen Anfänge Fontanes werden durchweg als epigonal eingestuft. Angefangen von einer „Lyrik voller spätromantischer Landschafts- und Gefühlsklischees" (S. 130) über die Erzählung „Geschwisterliebe', die über „sentimentale (n) Kitsch" (S. 131) nicht hinaus gelange, bis hin zu den politischen Gedichten, „die den Herwegh-Ton nachahmen" und als aus der „damals aktuellen Lyrik nicht herausragend' (ebd.) abgetan werden. Einzig „als Meister der Ballade' eroberte sich Fontane „literarisches Ansehen" (S. 132). Sicher, vieles von dem Gesagten ließe sich im Einzelfall auch bestätigen, doch wie wenig ist hier historisch differenziert und wieviel pauschalisiert worden. 3 Den „Wanderungen" gegenüber verhält sich Grawe eher zögerlich, weiß sie nicht so recht einzuordnen und in ihrem distinktiven Charakter zu verifizieren. Umfangreich und preußisch seien sie, und freilich wird auf den „Feuilleton-Charakter" (S. 137) hingewiesen, ansonsten aber die „tief empfundene Wendung zum Konservativen' (S. 135 f.) in Verantwortung gesetzt. Und das diesbezügliche, schlußfolgernde Diktum, „soziale und politische Belange traten dabei völlig zurück' (S. 136), hielte wohl einer ernsthaften analytischen Beweisführung kaum lange stand. Den Theaterkritiker Fontane wiederum kann Grawe gar nicht genug preisen. Unter einem „Fontane sei es gewesen, der ,die Theaterkritik seiner Zeit ... revolutioniert(e)' (S. 138) habe", geht es da nicht ab. Warum? Nun, weil er „Unparteilichkeit, Entschiedenheit des Urteils und literarische (n) Sachkenntnis' (ebd.) zu vereinen wußte. Weil er in seiner „typisch (e) unprätentiöse(n), zurückhaltenden Art ... Maßstäbe aufstellte und bei fachlicher Solidität eine nie gekannte Lesbarkeit erreichte" (S. 138 f.). Dies allein aber kann m. E. wohl nicht hinreichen, Fontane damit die Rolle eines Revolutionärs der Theaterkritik zuzuweisen.
In Schieflage gerät Grawes Fontane-Bild allerdings mit dem Einordnungsund Klassifizierungsversuch des Romanwerks insgesamt, das „den poetischen Realismus auf den Höhepunkt' (S. 140) geführt habe. Ein poetischer Realismus, „der die Wirklichkeit in kunstvoller Auswahl und Gestaltung ins Werk transponieren und die Rohheit des Lebens durch den Humor und die verklärende Balancierung von schön und häßlich, gut und böse ins Kunstreife umformen wollte." (S. 144) Und wenn auch an anderer Stelle in fast schon wieder überzogener Manier, Fontane als der unerbittliche Zeitkritiker par exel- lance herausgestrichen wird ' (v. a. S. 142 u. 146 f.) und Grawe ergänzt, Fontane habe mit seiner Erzählkunst auf literarische Entwicklungen des 20. Jhs. vorausgewiesen, so ändert das doch nichts daran, daß wir es hier m. E. mit einem klassischen Fehlurteil zu tun haben. Grawe bringt da wohl einiges durcheinander. In der ästhetischen Theoriebildung der 50er und 60er Jahre sind bei Fontane zweifellose Ansätze vorhanden, die denen des poetischen Realismus zumindest nahestehen, doch für sein spätes Prosaschaffen können diese kaum noch in Geltung gesetzt werden. Hier wird doch gerade das zeitspezifische Konfliktpotential, der Gegensatz zwischen Anspruch und Möglichkeit der Wirklichkeit förmlich abgewonnen, eben nicht verdrängt oder verklärt, sondern auszutragen und v. a. auszuhalten versucht. Mit poetischem Realismus
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