Heft 
(1991) 51
Seite
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Die literarischen Anfänge Fontanes werden durchweg als epigonal eingestuft. Angefangen von einerLyrik voller spätromantischer Landschafts- und Ge­fühlsklischees" (S. 130) über die ErzählungGeschwisterliebe', die übersen­timentale (n) Kitsch" (S. 131) nicht hinaus gelange, bis hin zu den politischen Gedichten,die den Herwegh-Ton nachahmen" und als aus derdamals aktu­ellen Lyrik nicht herausragend' (ebd.) abgetan werden. Einzigals Meister der Ballade' eroberte sich Fontaneliterarisches Ansehen" (S. 132). Sicher, vieles von dem Gesagten ließe sich im Einzelfall auch bestätigen, doch wie wenig ist hier historisch differenziert und wieviel pauschalisiert worden. 3 Den Wanderungen" gegenüber verhält sich Grawe eher zögerlich, weiß sie nicht so recht einzuordnen und in ihrem distinktiven Charakter zu verifizieren. Um­fangreich und preußisch seien sie, und freilich wird auf denFeuilleton-Charak­ter" (S. 137) hingewiesen, ansonsten aber dietief empfundene Wendung zum Konservativen' (S. 135 f.) in Verantwortung gesetzt. Und das diesbezügliche, schlußfolgernde Diktum,soziale und politische Belange traten dabei völlig zurück' (S. 136), hielte wohl einer ernsthaften analytischen Beweisführung kaum lange stand. Den Theaterkritiker Fontane wiederum kann Grawe gar nicht genug preisen. Unter einemFontane sei es gewesen, der ,die Theater­kritik seiner Zeit ... revolutioniert(e)' (S. 138) habe", geht es da nicht ab. Warum? Nun, weil erUnparteilichkeit, Entschiedenheit des Urteils und lite­rarische (n) Sachkenntnis' (ebd.) zu vereinen wußte. Weil er in seinertypi­sch (e) unprätentiöse(n), zurückhaltenden Art ... Maßstäbe aufstellte und bei fachlicher Solidität eine nie gekannte Lesbarkeit erreichte" (S. 138 f.). Dies allein aber kann m. E. wohl nicht hinreichen, Fontane damit die Rolle eines Revolutionärs der Theaterkritik zuzuweisen.

In Schieflage gerät Grawes Fontane-Bild allerdings mit dem Einordnungs­und Klassifizierungsversuch des Romanwerks insgesamt, dasden poetischen Realismus auf den Höhepunkt' (S. 140) geführt habe. Ein poetischer Realis­mus,der die Wirklichkeit in kunstvoller Auswahl und Gestaltung ins Werk transponieren und die Rohheit des Lebens durch den Humor und die ver­klärende Balancierung von schön und häßlich, gut und böse ins Kunstreife um­formen wollte." (S. 144) Und wenn auch an anderer Stelle in fast schon wie­der überzogener Manier, Fontane als der unerbittliche Zeitkritiker par exel- lance herausgestrichen wird ' (v. a. S. 142 u. 146 f.) und Grawe ergänzt, Fon­tane habe mit seiner Erzählkunst auf literarische Entwicklungen des 20. Jhs. vorausgewiesen, so ändert das doch nichts daran, daß wir es hier m. E. mit einem klassischen Fehlurteil zu tun haben. Grawe bringt da wohl einiges durch­einander. In der ästhetischen Theoriebildung der 50er und 60er Jahre sind bei Fontane zweifellose Ansätze vorhanden, die denen des poetischen Realis­mus zumindest nahestehen, doch für sein spätes Prosaschaffen können diese kaum noch in Geltung gesetzt werden. Hier wird doch gerade das zeitspezi­fische Konfliktpotential, der Gegensatz zwischen Anspruch und Möglichkeit der Wirklichkeit förmlich abgewonnen, eben nicht verdrängt oder verklärt, sondern auszutragen und v. a. auszuhalten versucht. Mit poetischem Realismus

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