REZENSIONEN
Nancy A. Kaiser: Social integration and narrative structure. Patterns of realism in Auerbach, Frey tag, Fontane, and Raabe. — New York, Bern, Frankfurt am Main: Peter Lang 1986. 229 p. (New York University Ottendorfer Series, Neue Folge. Hrsg. Volkmar Sander, Bd. 25.)
(Rez.: Wolfgang Paulsen, Menlo Park, California)
So furchtbar neu ist Nancy Kaisers These natürlich nicht, in der Zeit der Realismus-Debatte wurde sie in dieser oder jener Form bereits vielfach diskutiert: daß nämlich und wieweit ein Autor aus den historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit heraus schafft. Aber wir haben es hier schließlich auch mit einer Yale-Dissertation aus dem Jahre 1980 zu tun, die dann, auf Eis gelegt, ausreifen durfte und uns nun eine Autorin vorstellt, die ihre Sprache mit großer Sicherheit zu handhaben versteht, vielleicht ein klein wenig mit einer Neigung zur akademischen Gewähltheit.
Es geht ihr darum, drei Phasen in der Geschichte des Realismus in Deutschland voneinander abzuheben: die Zeit um die Mitte des Jahrhunderts mit Freytags Soll und Haben und Auerbachs frühen Dorfgeschichten, in denen der Autor sich noch kritiklos mit seiner bürgerlichen Gesellschaft identifizieren konnte, dann die Welten erst Fontanes und schließlich die des späten Raabe. Wie das bei Freytag geschieht, gehört zum Kanon der Literaturgeschichte, während auf Auerbach bisher weniger Gewicht gelegt wurde: die Dinge aber liegen bei ihm nicht anders. Gegen Ende des Jahrhunderts wird die Darstellung der Wirklichkeit mehr und mehr zu einem gesellschaftskritischen Unternehmen. Auch das versteht sich schon am Rande. Die eigentliche Leistung der Arbeit aber besteht in der Differenzierung der Positionen bei Fontane und Raabe. Während es Auerbach in seiner Frühzeit und für den ».Grenzboten' brand of realism' (45) noch um Fortschritt und die «successful assimilation of an individual' (48) ging, geht das selbstverständliche Identitäts-Bewußtsein des einzelnen mit seiner Gesellschaft schon bei Fontane verloren, um bei dem späten Raabe völlig auseinanderzuklaffen. Bei Fontane wird das am Schach von Wuthenow und E ffi Briest nachgewiesen, bei Raabe am Stopfkuchen und den Akten des Vogelsangs. Beide Romane Fontanes werden ausschließlich als Gesellschaftsromane verstanden. Die Interpretation (»or .readings") von äußeren Geschehnissen »con- stitute the import of the text', die Autorität des erzählerischen Diskurses sei nicht mehr überzeugend in einem einzigen Gesichtswinkel lokalisiert. (95) Nancy Kaiser geht es dabei weniger um die psychologischen Finessen, und so kann sie noch summarisch von einer Verführungsszene sprechen (97), ohne sich zu fragen, wer da denn nun wen verführt. Alle Standpunkte sind relativ
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