Heft 
(1991) 52
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matik. Der Verf. ist sich bewußt, daß dabei neben der literarischen Analyse auch und vor allem die detaillierte Untersuchung des sprachlichen Zeichen­systems und des ihn tragenden Bedingungsgefüges unumgänglich wird: So .. dekodiert oder interpretiert der Rezipient bei der Lektüre von Raumbe­schreibungen Sprachzeichen, das heißt, er setzt die Worte in Vorstellungen um, die sowohl dem literarischen Kode wie auch seinem eigenen Verständnis von Realräumen entsprechen'. (S. 9) Resultat ist das Entstehen einer "zweiten Wirk­lichkeit".

Es wird nun zur Ausgangslage der Untersuchung Andermatts, daß unter der Prämisse einer bisher fehlenden .Poetik des Raumes' hier, wie es in der Schluß­bemerkung fixiert wird, keine Literaturgeschichte des poetischen Raumes ge­leistet werden kann, sondern es sich nur um eine sogenannte .Vorarbeit' (S. 244) handelt. Zieht der Rezensent diese Selbstbeschränkung in Betracht, so liefert der Verf. doch einen außerordentlich interessanten, wissenschaftlich ergiebigen und anregenden Beitrag zu einer künftigen .Geschichte des literarischen Rau­mes'!

Das von uns als interessant und anregend Bezeichnete hat zum ersten vor allem seine Ursache in der vordergründig sicherlich als eigenwillig anzusehen­den Auswahl der drei interpretierten Texte: Eugenie Marlitts Das Geheimnis der alten Mamsell. Theodor Fontanes Effi Briest und Franz Kafkas Der Ver­schollene (.Amerika"). Eine .diffusere' Auswahl, ein breiteres Spektrum läßt sich kaum denken; dennoch: Andermatt verweist mehrmals darauf, daß er weder einen zusammenhängenden literaturgeschichtlichen Diskurs sich zum Ziel gesetzt hat, noch daß er den Anspruch erhebt, eigenartige und nicht zu bewei­sende literarische Verbindungen zu konstruieren, deren einzige Grundlage die Spekulation wäre.

Zum zweiten bewegt sich der Verf. gerade bei der konkreten Analyse fernab eben jener gefährlichen Spekulation, da er es versteht, bis in die diffizilsten Sprachschichten der Raumdarstellung vorzudringen. So wird in der Analyse des Marlittschen Textes der Raum in seiner Wertstruktur und als Mittel der Figurencharakterisierung, als .Sub-Kode der Wertzuschreibung' (S. 28) in den detaillierten Wertkonkretisierungen dargestellt unter besonderer Berücksichti­gung des Milieus. Es folgen im ebengenannten Untersuchungsteil durch den Verf. das differenzierte Herausarbeiten des Verhältnisses von poetischem Raum und Handlungsstruktur, wobei die einzelnen .Raumversatzstücke' (S. 70) in ihrer Funktion als Informationsträger für ein Weltmodell betrachtet werden: .Der poetische Raum liefert uns ... ein eigentliches Weltmodell, das vorführt, wie Konflikte entstehen und gelöst werden.' (S. 71)

Dies ist auch die Voraussetzung für die Charakterisierung von Raumkonstitution und Perspektive in Theodor Fontanes Roman Effi Briest im mittleren Teil der Arbeit Andermatts. Hier konzentriert sich der Verf. auf das Problemfeld von Erzählerperspektive, Erzählraum, Figurenperspektive und Figurenraum. Be-

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