Heft 
(1991) 52
Seite
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Ibsen und die Deutschen, erschienen 1989 im Henschelverlag, weiterführte und vorerst zusammenfaßte. Er greift dabei auf frühere Arbeiten und Veröffentli­chungen zurück, aber bisweilen in stark erweiterter und vertiefter Gestalt. So ist Ibsens Polaritätsgedanke im Buch sowohl breiter ausgeführt als auch präg­nanter gefaßt als im Weimarer Beitrag aus dem Jahre 1978. Dazu trägt vor allem die fundamentale Einbeziehung des rhetorisch-intellektuellen historischen Dramas Kaiser und Galiläer als Abschluß von Ibsens Frühentwicklung bei. Eine Rezension über Bernhardts Buch trug die Überschrift Zwölf geistreiche Kapitel über Henrik Ibsen. Neben dem Informationsreichtum und der analy- tisch-interpretatorischen Gründlichkeit scheint damit eine gewisse lockere und breite Struktur des Buches angedeutet, die nicht nur auf die stufenweise Ent­stehung zurückgeht. Es hat, wie manche materialistisch fundierte Untersuchung, etwas von einem breiten Strom an sich, der vielen Faktoren und Einflüssen nachgeht, ohne daß der Interpret ihnen undialektisch erliegt. Einflußerfassung ist mit geistiger Verdichtung und Verwesentlichung gepaart. Bernhardt verfolgt im wesentlichen zwei Prozesse: einmal die Prägung Ibsens durch geistig-litera­rische Einflüsse aus und in Deutschland, besonders während der Aufenthalte in Dresden 1852 und 1868 bis 1875, zum anderen die Wirkung des realisti­schen Ibsen auf die deutsche Literatur. Der erste Prozeß dauert bis zur Mitte der siebziger Jahre, er erreicht mit der Ablehnung von Reichsgründung, Bis­marck-Reich und Machtpolitik, artikuliert in Kaiser und Galiläer, seinen Höhe­punkt und Abschluß; der zweite setzt mit der Wirkung der Stützen der Gesell­schaft auf die deutschen Bühnen, auf die jungen Naturalisten und auf die deutsche Öffentlichkeit ein, also etwa 1877/78, um sich mit Gespenstern, Nora usw. fortzusetzen. Neben dem Einfluß eines popularisiert aufgefaßten Hegel und neben Kierkegaard-Rezeption ist Ibsen nach Darstellung Bernhardts in hohem Maße durch Hermann Hettner geprägt worden. 1852 lernte er bei seinem ersten Aufenthalt in Dresden dessen Schrift Das moderne Drama kennen. Während Gottfried Keller sich an Hettners Theorie der Komödie orientiert hatte, nahm Ibsen seine Konzeption der Tragödie der Verhältnisse, des sozialen Dramas, als des »modernen Schicksalsdramas' auf, um sie allerdings erst im reifen Spätwerk, namentlich in Gespenstern, zu verwirklichen. In Dresden war Ibsen zugleich vom praktischen realistischen Theater beeindruckt.

Auch auf den Einfluß Heinrich Heines auf Ibsen kommt Bernhardt wiederholt zu sprechen, doch in einem entscheidenden Punkte ignoriert er ihn. Es ist nicht der Anteil von Heines Begriffspaaren Helenentum und Nazarenertum, von Sensualismus und Spiritualismus an Ibsens utopischer Vision des humanistischen Dritten Reiches berücksichtigt, die der Norweger der Bedrohung Europas durch Preußentum und Bismarck-Reich entgegenstellte (vgl. die Kritik am Preußen­tum durch August Strindberg in der Friedensnovelle Gewissensqual). Diese Lücke überrascht insofern, als sowohl Thomas Mann in seiner Notiz über Heine als auch Alfred Kerr in der Rezension über Kaiser und Galiläer die antizipatorische Wirkung Heines auf Ibsen vor Augen haben. Die Konstellation Ibsen-Björnson, in dessen Schatten Ibsen zunächst auch in Deutschland stand.

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