Heft 
(1991) 52
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nichtkanonischen Fontane-Lektüre" in Aussicht. Eine weitreichende Formu­lierung, weil bekanntlich das Kanonische das Maßgebliche ist, hier jedoch in einer Weise auftritt, die nach Abhilfe verlangt. .Kanonische Fontane- Lektüre neigt dazu, die Widersprüche und Spannungen in den Texten einzu­ebnen, Problematisches in ihnen zu verdrängen oder zu verharmlosen.' (156) Es fragt sich, ob solche Gefahren nicht jedem Autor auflauern, der sich an­schickt, Klassiker zu werden. Aber daß Fontane schon seit seinen Lebzeiten, als an Klassizität noch nicht zu denken war, in besonderem Maße dem Zu­griff interessierter Vereinnahmungs-, Vereinheitlichungs- und Harmonisierungs­bestrebungen ausgesetzt war, ist unbestritten; daß sie dazu Gelegenheit ge­ben, gehört zu den konstitutiven Eigenarten von Person und Werk, auf die der Band Wert legt, ohne einer neuen Beliebigkeit das Wort zu reden. Zur Erklärung wären außer den Praktiken professioneller Leser, auf die er sich beschränkt, dann auch die Dispositionen heranzuziehen, mit denen das Pu­blikum ihnen zweifellos entgegenkommt. Aufschlüsse über das Zusammen­spiel, das da stattfindet, dürfte man sich beispielsweise von einer Rezep­tionsgeschichte der Wanderungen durch die Mark Brandenburg versprechen, wenn sie einmal geschrieben und bis in den anhaltenden Beliebtheitsboom unserer Tage verfolgt würde. (Hubertus Fischer hat zu diesem Desiderat, das Charlotte Jolles schon vor langem namhaft machte, in seinen höchst be­herzigenswertenGegen-Wanderungen" 1986 einige Beobachtungen beige­bracht, die heute schon wieder weiterzuschreiben wären.) Aber bis auf den streitlustigen Stechlin-Aufsatz zeigen sich die Autoren an übergreifenden for- schungs- oder rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen, für die Mecklen­burg einige episodische Exempel vorführt, wenig interessiert. Wenn das Kon­zept des Bandes hier richtig ausgelegt wird, dann realisiert es sich, was das einzelne angeht, in einer Arbeit am Gegenstand, die von Beitrag zu Beitrag im Bewußtsein wie in der Handhabung des Methodischen ein starkes Ge­fälle aufweist und auch ungleichwertige Ergebnisse zeitigt. Im Rahmen des Ganzen realisiert es sich vornehmlich über die Themenstreuung - nicht zu ver­gessen den Zusammenhalt, den ihm drei Handvoll fontanescher Selbstäuße­rungen verleihen, die Günter de Bruyn zielstrebig ausgesucht und einge­schaltet hat. Allen Arten »Märkischer Forschungen" verschrieben, hat de Bruyn im »Märkischen Dichtergarten" auch ein Bändchen mit den schönsten »Wan­derungen" herausgebracht. Wer noch nichts von dem Fontane-Kenner wußte

- seine Erzählung über die inzwischen vollends abgelebte »Neue Herrlich­keit" erklärt sich erst richtig vor dem Hintergrund von Irrungen, Wirrungen

- dem sind die zitierten Textstellen und der Aufsatz »Mein Liebling Marwitz oder Die meisten Zitate sind falsch" doppelt nahezulegen, mit dem der Rei­gen der Beiträge eröffnet wird. Fontanes Äußerungen über sein Leben, sein Metier und sein Milieu vergegenwärtigen den überaus problembewußten Geist, von dem der Aufsatz besagt;Angesichts gewaltsamer Interpretatio­nen, die Fontanes Entwicklung in einem arbeiter- und sozialismusnahen Ziel­punkt enden ließen, ist die Verführung groß, die Darstellung des Marwitz- Einflusses mit der Behauptung zu krönen, daß ein aufs alte Preußen orien-

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