Heft 
(1991) 52
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Die Vita tendiert stattdessen zu einer neuen Fontane-Chronik. Das wäre ein überaus erwünschtes Unternehmen, das aber wohl nicht umsonst auf sich warten läßt; Hermann Frickes 1960 veröffentlichter Chronik von Fontanes Leben dürfte es nicht mehr sehr ähnlich sehen, wenn es vergleichbaren Arbei­ten gleichkommen, mit den angehäuften Ergebnissen und den Lücken der Spezialforschung fertigwerden und - den Intentionen des Fontane-Sonder­bandes von TEXT + KRITIK gemäß - den Widersprüchen, den Spannun­gen und dem Problematischen gerecht werden will, an denen Fontanes Le­ben ebenso reich ist wie seine Texte.

Claudia Liebrand: Das Ich und die Anderen. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder. - Freiburg: Rombach 1990. 341 S.

(Rez.: P. I. Anderson, Aalen)

Empirische Hermeneutik

Wenn man davon ausgehen darf, daß wir im Zeitalter des Narzißmus, der selbstverständlichen Selbstverliebtheit, der Selbstverwirklichung koste-es-was-es- wolle leben, müßte man nicht den Fontane-Verehrer als einen beschreiben, der gegen den Strom schwimmt? Denn die Feststellung des Pastor Lorenzen im Stechlin, der Egoismus sei der Fluch der Gesellschaft, findet man bei Fontane schon vor 1848 und zwischendurch immer wieder. Nicht nur inhaltlich durch­dringt Fontanes Dichtung dieses Bekenntnis - denn in seinen Erzählungen ist der Verzicht meistens die weiseste Handlungsentscheidung, - sondern spä­testens bei Grete Minie 1879 charakterisiert es seine Schreibtechnik. Welch merkwürdiger Gegensatz: hier dichtet eine in unzähligen Auseinandersetzun­gen gereifte Persönlichkeit die Epen der schwachen Persönlichkeiten, versagt sich die Selbstbehauptung im Akt der Selbstbehauptung, fühlt sich in die Herzen der von Nietzsche verschmähten »Vielzuvielen' ein, macht sie zu seinen Helden. Bei sich selbst war er auch nicht blind dafür, entschuldigte aber den eigenen Egoismus mit dem höheren Wert seiner Arbeit. Eigentlich verlangt ein solcher Kontrast zwischen Dichter und Figuren nach der Analyse seines Selbstverständnisses und seiner kreativen Psychologie; aber auch die Literatur­psychologie wandte sich lieber anderen zu. Statt dessen wurde seit Anfang der chologie wandte sich lieber anderen zu. Statt dessen wurde seit Anfang der Fontane-Renaissance der Blick meistens auf den großen Gegenspieler dieser schwachen, verzichtwilligen Helden gerichtet - auf die Gesellschaft, und zwar die von damals. Kamen seine Helden auf ihre Kosten, so erst im Bewußtsein des im Verzicht implizierten Verlustes. Daran hielt sich der herrschende Narzißmus unschädlich für alle mitempfundene Kränkung 1 . Z. B. galt Innstetten nach wie

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