Heft 
(1991) 52
Seite
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vor als herzlos, aber an seiner These vomGesellschalts-Etwas" durfte nicht gerüttelt werden.

Aus einer Hochburg der Literaturpsychologie kommt nun eine Doktorarbeit, deren Titel schon eine durchgehend positive Einstellung verkündet: Das Ich und die Anderen. Claudia Liebrand behandelt Fontanes Figuren als die tatsäch­lichen Helden seiner Erzählungen und personifiziert die Gesellschaft alsdie Anderen" - wie es der erzählerische Rahmen vorgibt. Da ist es auch nur konsequent, daß sie Innstettens Argumentation widersinnig nennt, im Duell groteske Unverhältnismäßigkeit" sieht. Ja, wer hat denn dann immer davon pro­fitiert, daß die Personen in der Geschichtsschreibung für unwichtig deklariert wurden? ...

Freilich waren es nicht die obigen, sondern andere, eigene Überlegungen, die die Autorin auf ihrgenial vereinfachendes" Konzept brachten: der selbst­verständliche Umgang mit psychoanalytischer Literaturbetrachtung - gemildert durch das Bewußtsein ihrer Grenzen -, aber mehr noch die Reflexion über die heutige Popularität der Autobiographie und den Ausnahmefall, den Fontanes autobiographische Schriften darstellen. Ergänzend registriert sie, daß Fontane keine Bildungsromane schrieb, keine großen Seelenentwicklungen, keine Ich- Erzählungen, keine Herzensergießungen. So ein Couch-Muffel macht es seinen Möchtegern-Analytikern natürlich besonders schwer.

Offenbar hat Liebrand die Schwierigkeit des Unternehmens gereizt, induktiv arbeiten zu müssen, sich auf Theorie und Beobachtung voll und ganz zu verlas­sen. Darum betont sie auch ihre Nähe zur amerikanischen Praxis, sich ganz auf die Hermeneutik zu verlassen. Wer induktiv arbeitet, illustriert kein Prin­zip, sondern entwickelt das Prinzip hinter der Illustration aus ihr heraus. Wie heißt es doch bei Fontane? . "Ich bin ein kolossaler Empiriker

Weil Fontane dennoch eine reichhaltige Palette vonFensterblicken" ins Innen­leben der Figuren bietet, über eine Anzahl vonRequisiten aus der Trickkiste des Dramatikers" verfügt, und Kindheitserinnerungen schrieb, deren Nähe zu seinem Romanwerk augenzwinkernd nahegelegt wird, fehlt es nicht an Roh­material, falls der Analytiker die Zeit und das Talent besitzt.

Für induktives Arbeiten ist die Standardform einer philosophischen Doktorar­beit aber alles andere als bedienerfreundlich. Das ungeschriebene Gesetz, daß die Theorie den Vortritt vor der Illustration und Beweisführung bekommen muß, paßt viel besser zum deduktiven Denken. Auch die Autorin ver­mochte nicht, sich über dieses ungeschriebene Gesetz hinwegzusetzen, so daß das Buch ausgerechnet mit dem schwächeren Teil, dem theoretischen, anfangen muß. Die Versuche, bekannte Theorien anzuwenden - hauptsächlich die von Freud, deren Grenzen nicht verschwiegen werden - regen zwar zum Nach­denken an, verlaufen aber hier im Sande. Vor allem will es mit der Anwendung der Ödipus-Theorie nicht klappen. Besonders der Versuch, Fontanes Verhält­nis zum Vater in dieses Muster zu pressen, schlägt m. E. fehl 2 . Zwar gibt die Abwesenheit der Geschwister in den Kindheitserinnerungen Anlaß, über ödipale Eifersucht nachzudenken. Ähnliche Lücken im Personenregister findet man auch in seinen Romanen - Peter Wruck nannte die 100%ige Abwesenheit einer Frau

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