Professor Schmidt neulich ein .Unding' 3 -, aber zu diesem Punkt in Liebrands Interpretationen stellt man Fehlanzeige fest. Um das erkannte Theoriedefizit einigermaßen auszugleichen, wird jedem der fünf interpretierenden Kapitel eine theoretische Begründung vorangestellt, wobei der später zu besprechende Stil dem Verständnis oft entgegenwirkt. Zwar läßt sich Theorie induzieren, aber das passende philosophische Fundament wurde erst in diesem Jahrhundert gelegt. Andererseits erweist sich das Bekenntnis zur konsequenten Hermeneutik als funktionstüchtige Methode der Interpretation. Mit einem sicheren organisatorischen Instinkt wird der Hauptteil der Arbeit dann nach den einzelnen .dramatischen Requisiten' geordnet, als da sind fünf Kapitel:
3. Spiegelblicke: Begegnungen mit dem alter ego,
4. Rollen- und Lebensspiel: Selbstinszenierung und Postfiguration,
5. Briefe: Selbstentwurf und Selbstkodifizierung,
6. Soliloquien: Selbstreflexiver Diskurs und tagträumerische Wunschimagines,
7. Gespräche: Selbst- und Fremdreferenz.
Diese Organisation bricht Fontanes Gesamtwerk in sogenannte Längsschnitte auf - ein immer beliebter werdendes Verfahren mit Vor- und Nachteilen. Diese könnten durch ein Werkverzeichnis am Schluß z. T. abgefangen werden, was hier leider fehlt. Kauft man das Buch selbst, ist das Problem mit dem Bleistift zu lösen, aber wie werden die Bibliotheksexemplare bald aussehen?
Ja, das praktische Konzept dieser Kapitel ist von so schlagender Einfachheit, daß es einen immer wieder ins Staunen versetzt. Die Übersicht geht dank gewisser schriftstellerischer Kniffe nirgends verloren; trotz des Längsschnittverfahrens wühlt Liebrand nicht eigenwillig im Gesamtwerk herum, sondern behandelt eine beschränkte Anzahl von Figurengruppen wiederholt und gründlich. Auch die Kapitellänge von durchschnittlich 50 Seiten wirkt sich positiv aus, denn dieser Teil wirkt wie aus einem Guß. Das Verfahren beleuchtet die gleichen Figuren aus mehrfacher erzähltechnischer Perspektive. Die aufbauende Wiederholung führt zur ständigen Vertiefung und schließlich zu einer plastischen Durchformung, die einem selten begegnet. Die Interpretationen sind so überzeugend gelungen, daß Zitate ihnen kaum gerecht werden - nicht etwa, weil es nichts Zitierenswertes gibt. Im Gegenteil fallen immer wieder kurze, den Nagel auf den Kopf treffende Bemerkungen wie diese:
»Effi ist kein weiblicher Narziß, nicht wie Cecile begierig darauf, sich gespiegelt zu finden.' (82)
.Jennys Fehleinschätzung ihrer eigenen Person führt aber keineswegs zu Fehleinschätzungen der gebotenen Handlungsstrategien.' (117)
.Denn der Entwurf eines freundlicheren Schachbildes hat Rückwirkungen auf das komplementäre Bild Victoires.' (137)
.Eine Fontanesche Romanfigur, die häufig in eine sinnierende Attitüde verfällt, ist ausgerechnet der zur illusionslosen Introspektion äußerst unbegabte Gordon.' (207)
.Nicht nur bei der Introspektion, auch wenn er auf andere blickt, sieht Botho, was er sehen will.' (218)
146