Heft 
(1992) 53
Seite
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Fontane hat seine lange dichterische Lehrzeit gerade in der Epoche der soge­nannten zweiten Reichsgründung abgeschlossen, in der Zeit also, in der das 'Primat der Innenpolitik' die welthistorische Leistung Bismarcks auf europäi­scher Ebene zu hinterfragen begann. Inwieweit "System", inwieweit die mensch­lichen Schwächen im Charakter des nunmehrigen Reichskanzlers, preußischen Ministerpräsidenten, Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und ab 1880

p reußiscnen Handelsministers für den weiteren Verlauf der Dinge verantwort- ich zu machen seien, dieser Frage ist nicht zuerst die Historikerzunft im 20. Jahrhundert, sondern schon im 19. der preußische Schriftsteller Fontane nachge­gangen. 16

II

Fontane wurde erst 1848 auf Bismarck aufmerksam gemacht. Ja, für beide spiel­te das 'tolle Jahr' eine zentrale Rolle in der Entwicklung, bei allen Unterschie­den in der Herkunft, Lebenssituation und im Temperament. In einem am 21. No­vember 1849 erschienenen Zeitungsbericht zum Waldeckprozeß in der "Dresd­ner Zeitung" greift Fontane eine bildliche Wendung Bismarcks auf und kehrt sie gegen den Sprecher: "... so erlaube ich mir den neulichen Spruch des Abgeordneten Bismarck-Schönhausen 'Das Narrenschiff der Zeit wird an dem christlichen Be­wußtsein des Volkes wie an einem Felsen zugrunde gehen' dahin zu variieren: daß das Narrenschiff der Reaktion endlich am beleidigten Rechtsgefühle des Volkes scheitern wird." Provozierend und auch witzig an dieser Zitierkunst ist die Art, wie beide mit Hilfe eines antiken, von Sebastian Brant im christlich-didakti­schen Sinn popularisierten Bildes als selbstgewählte Fürsprecher des Volks auf- treten, der eine aus patriarchalisch-christlicher, der andere aus neuzeitlich-de­mokratischer Sicht.

Damals war Bismarck für die meisten nicht viel mehr als der "stets schlagfertige Kämpe... und Witzmacher der äußersten Rechten", wie es bei Fontane in einem Artikel vom 30. Januar 1850 im gleichen Organ hieß. Jedoch Fontane erkannte in ihm, zusammen mit seinen Mentoren, Friedrich Julius Stahl und Ludwig v. Gerlach, ein ganz neues Moment: Diese sind für ihn (am 29. Januar 1850) "die Revolutionsmänner unserer äußersten Rechten. Er meine nicht "Helden der C o n- t r e revolution. Nein, diese Stahls, diese Bismarcks, diese Gerlachs sind in der Tat die eigentlichen polnischen Emissäre und gefürchteten Propagandisten, die immer neue Revolutionen vorbereiten". 17

Die ungeheure Provozierung für die Zeitgenossen, die im November 1849 in der Wendung "polnisch" im Zusammenhang mit "Revolution" lag, in dem Ansin­nen des jungen Journalisten, jemanden wie Bismarck als Revolutionär zu be­zeichnen, ließe sich im nachhinein aus den Schriften etwa eines Gustav Freytag ermessen. Im ebenfalls 1849 erschienenen Aufsatz Freytags: Die Juden in Breslau oder in den sog. Revolutionskapiteln seines Erfolgsromans Soll und Haben von 1855 macht Freytag die revolutionäre Tendenz unter Deutschlands Nachbarn, den Ostjuden und den Polen konstitutiv für ihre 'Minderwertigkeit', gemäß jener Hierarchie der Kulturvölker, die seit der Polendebatte in der Frankfurter Nationalversammlung im Juli 1848 unter dem deutschen Mittelstand breite Zu­stimmung zu gewinnen begann.

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