Heft 
(1992) 53
Seite
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Müller-Seidel einen längeren und provokativen Beitrag "Fontane und Bis­marck" geliefert und sich mit dem Thema im Rahmen des Gesamtwerks in einem wichtigen Kapitel seines 1975 bzw. 1980 in einer Neuauflage er­schienenen Fontanebuchs auseinandergesetzt. Mag man im einzelnen anderer Meinung sein, so sind zwei Einsichten vor allem festzuhalten: Fontane habe, so Müller-Seidel, seiner beständigen Beschäftigung mit Bismarck jenes ihn so eminent aus-zeichnende vertiefte Zeitbewußtsein zu verdanken, und der Reichskanzler habe "durch seine Person, aber ohne sein Zutun" ... "zum Klärungsprozeß im schriftstellerischen Bewußtsein Fontanes" nicht wenig beigetragen. 13

Denn die Beschäftigung mit Bismarck zog sich fast durch Fontanes ganze schrift­stellerische Laufbahn, und die kunstreichen Anspielungen auf die Gestalt Bis­marcks im Roman gehören zu den Charakteristika, die der politischen Tiefen­schicht seines Alterswerks ihre überzeugende Dichte verleihen.

Fontane war wie kaum ein anderer geeignet, das Phänomen Bismarck zu verste­hen: einmal aus der besonderen Verwandtschaft, die Zeitgenossen verbindet. Der Einbezug Bismarcks in das Gesamtwerk entspricht seinem Verständnis der gesellschaftlichen Funktion des Schriftstellers; dieser habe die Menschen zur Selbstkritik und zum kritischen Auseinandersetzen mit ihrer politischen Um­welt zu lehren, wozu sich nach Fontanes Dafürhalten die seine deutschen und europäischen Zeitgenossen überragende Figur des Reichseinigers in besonde­rem Maß bot. Die Generationszugehörigkeit von beiden habe nach Thomas Mann eine besondere Bewandtnis: Fontane war, wie es im Aufsatz: Der alte Fontane (1910) hieß, "nach Jahrgang und Ausrüstung ein Mitglied des europäischen Hero­engeschlechtes..., zu welchem Bismarck, Moltke und Wilhelm der Erste, Helm- holtz, Wagner, Menzel, Zola, Ibsen und Tolstoi gehörten". 14 Vier Jahre trennten Bismarck und Fontane. Ersterer war zwei Jahre nach der napoleonischen Nie­derlage geboren, während Fontane zur Welt kam, als der liberalen preußischen Reformära ein jähes Ende gesetzt wurde; beide sind politisch, wenn auch unter ganz unterschiedlichem Vorzeichen, Kinder des Vormärz. Auch andere Berüh­rungspunkte ergeben sich aus der gemeinsamen Generationszugehörigkeit, so der Zugang zum Bildungsgut des deutschen Vormärz, in dem Schiller und Hei­ne eine wichtige Rolle spielten; allerdings ging es bei Bismarcks Lektüre um einen leicht verharmlosten Heine - Goethe jedoch las er kaum. Eine andere, nicht ganz zufällige Gemeinsamkeit, bedenkt man das im Ganzen recht unpro­blematische Bild der Juden im Deutschland der Jahre zwischen 1830 und 1848, ist die Vorliebe sowohl Fontanes und Bismarcks für die Gesellschaft gebildeter Juden. Bismarck verstand sich beispielsweise sofort mit Disraeli, der seinerseits aus Kongreßberlin an die Königin Viktoria das Lobwort fällte: "Er spricht, wie Montaigne schreibt". Beide, Bismarck und Fontane, sind durchaus fähig, für die Nachwelt unakzeptable Äußerungen über jüdische Mitbürger auszusprechen, so der Kanzler über den Freund, dem er so viel verdankte, Baron Bleichröder. Die zwei Zeitgenossen begegnen sich, wieder mit anderer Akzentsetzung, in ihrem Sinn für die ungewisse Zukunft des Deutschen Reiches. Während Bis­marck am Ende seiner Laufbahn von düsteren Vorahnungen der Zerstörung seines Lebenswerks geplagt wurde, spricht Fontane gelassen von der Möglich­keit eines Abfalls des Reiches in seine Teile: " Niemand (ist) ... im geringsten von der Sicherheit unsrer Zustände überzeugt; das Eroberte kann wieder verlorengehn, Bayern kann sich wieder ganz auf eigne Füße stellen, die Rheinprovinz geht flöten, Ost- und Westpreußen auch, und ein Polenreich ... entsteht aufs neue." 15

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