Heft 
(1992) 53
Seite
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die den Text nicht lesen wollen, weil sie Zeit sparen möchten oder kein Verhält­nis zur Literatur haben, werden immer einen Weg suchen, um die Lektüre zu vermeiden. Vor diesem Mißbrauch ist auch Kletts Lektürehilfe nicht sicher - vgl. z.B. die umfangreiche Wiedergabe der Handlung. Aber sie ist mit ca. 40 Seiten auch so umfangreich, daß sie - zusammen mit den Ausführungen über die Figuren - fast die halbe Lektüre des Romanes ausmacht. Außerdem sind viele Zitate (bewußt?) so knapp bemessen, daß sie für ein Referat oder als Beleg in einer Arbeit selten ausreichen, wohl aber für die Absicht des Verfassers, eine Untersuchungsrichtung anzugeben.

Die im letzten Drittel dargelegten literaturtheoretischen Sichtweisen sind als Grundlage für eine nähere Analyse (z.B. Funktion der Gespräche, Figurenspra­che) und damit als Anleitung für eine intensivere Beschäftigung mit Fontanes Roman durchaus notwendig. Darin enthaltene Fachtermini (z.B. S. 84ff., S. 106/ 107) oder einem Bedeutungswandel unterworfene Begriffe aus dem 19. Jahrhun­dert werden dabei verständlich erklärt (z.B. S. 57/58). Insofern sind mehrere Sicherungen eingebaut, um einen Mißbrauch weitgehend auszuschließen. Den Zugang zum Roman Frau Jenny Treibel und zu dessen Verständnis ebnet der Verfasser durch eine Kapitelfolge, die dem gesellschaftskritischen Anliegen des Autors gerecht wird.

Ausgehend von der Handlung, werden kompositorische und historische Posi­tionen vorgegeben, die das Verständnis thematischer Aspekte und der Figuren in ihrer Darstellung erleichtern. Dann folgen spezifische künstlerische Mittel der Dichtung Th. Fontanes bis hin zur Erörterung einiger Interpretationsansätze und rezeptionsgeschichtlicher Fragen. Die Teile sind nicht völlig voneinander abgrenzbar, sondern durchdringen sich vielfältig (z.B. Personenkapitel und Ge­spräche oder Figurensprache). Sie erfüllen insgesamt alle ihre vermittelnde Auf­gabe.

Von besonderem Wert für den Einstieg in den Roman sind m.E. die beiden Kapitel über künstlerische Gestaltungsmittel Fontanes: "Roman in Gesprächen" sowie "Ironische Erzählhaltung". Sie sind - wie alle Kapitel - im Aufbau über­sichtlich, zeigen an Beispielen Fontanes meisterhafte sprachliche Gestaltungs­möglichkeiten und sichern damit den Zugang zum Werk und seinem Verständ­nis. Schüler benötigen wohl das Kapitel über Gattungsprobleme nicht, zumal dazu an anderem Ort einiges geboten wird (z.B. S. 45).

Von den thematischen Kapiteln wurde den Ausführungen über die "Kritik der Bildung" richtig am meisten Platz eingeräumt. Schon in der Überschrift wird die Interpretationsrichtung angedeutet. Ohne auf Begriffsprobleme, die Schüler wenig interessieren, näher einzugehen 2 , entwickelt der Verfasser, dem Gang der Handlung folgend, Vorstellungen über den bürgerlichen Bildungsbegriff auf verschiedenen sozialen Ebenen. Ausgehend vom "veräußerlichte(n) Bildungs­verständnis der wilhelminischen Bourgeoisie" (S. 60), wird die Auffassung Jenny Treibels (Bildung als Aneignung von Wissen, ohne innere Ausein-andersetzung) der von Willibald Schmidt gegenübergestellt. Es gelingt, dessen prozeßhaftes Verständnis von Bildung unter Bezugnahme auf Hegel für ältere Schüler zwar anspruchsvoll, aber verständlich darzustellen. Am Beispiel Schliemanns (Gespräch Schmidt - Distelkamp) wird die "Individualität als Zielpunkt des Schmidtschen Bildungsverständnisses" (S. 63) betont und das Verhältnis von Bildung und Besitz erörtert. Das Kapitel schließt mit der Interpretation der "Sieben Waisen Griechenlands" und ihrem letztendlich "veräußerlichten Bil­dungsbegriff" (S. 64) der sog. Bildungsbürger. Dieses zentrale Kapitel ist ohne

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