Heft 
(1992) 53
Seite
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Melanie und Rubehn, Botho und Lene die gesellschaftliche "Ordnung in ihrer Rigidität", die "Übermacht des patriarchalischen Prinzips" (S. 110) bis zur Lie­bes- und Glücksunfähigkeit, bis zur Abwesenheit von Kritik verinnerlicht hät­ten. Die Liebe zwischen Botho und Lene sei eigentlich unwirklich, nicht authen­tisch. "Die Personen können kein gesundes Selbst entwickeln. Sie haben kein Urvertrauen in die Paradiesanteile in ihrem Innern als einem Teil der Realität" (S. 110). In diesem Punkte erweist sich der Einfluß der Tiefenpsychologen C.G.Jung und Mario Jacoby als fruchtbar. Wie würde Konrad nun aber erst über die wirklich reduzierten Hauptgestalten in Hermann Brochs Roman "Pasenow oder die Romantik" urteilen, der als Rezeption von Irrungen, Wirrungen ge­schrieben ist. 4 Sehnsucht, Verklärung der Entsagung, Schuldgefühle und Buße träten bei Fontane an die Stelle gelebten Daseinsgenusses. Ihm sei es jedoch gelungen, Leibfeindlichkeit und Innerlichkeit, Resignation und Entsagung in den Romangestalten so sehr zu verinnerlichen, daß Defizite und Deformationen als normal empfunden würden, was auf verfeinerte Systemstabilisierung hin­auslaufe. Hier wird radikale Kritik am auch in Fontane weiterwirkenden deut­schen Idealismus, an bürgerlicher deutscher Praxisfeindschaft geübt, die hinter der Brechts in den "Flüchtlingsgesprächen" nicht zurückbleibt. Es wird ein Apo­logetik-Vorwurf erhoben, der den der marxistischen Philosophen, Ästhetiker und Literaturwissenschaftler weit übertrifft.

Interessant ist auch der letzte Teil über Fontanes bisher vernachlässigte Emotio­nalität. Die Verfasserin knüpft an dieser Stelle an die Dissertation von Gottfried Zeitz an über "Die poetologische Bedeutung des RomansL'Adultera' für die Epik Theodor Fontanes". Das Emotionelle spiele bei Fontane in mehrfacher Hinsicht eine große Rolle. Seine Gesellschaftsdarstellung trage in hohem Maße empfundenen Charakter. (So hat auch der Rez. Fontanes beseelteste und beste Romane stets als atmosphärisch-impressionistisch empfunden und in Be­ziehung zu hochgradig atmosphärisch-impressionistischer österreichischer Lite­ratur gesehen, besonders zu Arthur Schnitzler.) Das Emotionelle der Frauenge­stalten richte sich gegen das rationalistische Zweck- und Verwertungsdenken der Männer als der Repräsentanten der "patriarchalen Gesellschaft" und der "paternalistischen Strukturen". Aber nicht nur das Protesthafte, Nonkonformi­stische und Sezessionistische sei von Fontane selbst erlebt, auch die Gewissens­und Ordnungsgefühle seien vom Autor tief innerlich erfahren worden. Der Kon­flikt zwischen Individuum und Gesellschaft ereigne sich bei Fontane als "gro­ßem Soziologen des Herzens" (S. 13) vor allem im Inneren der Romangestalten. Am Ende stehe freilich die Kapitulation vor der Echtheit und Überlast der Ord­nungsgefühle. Die umfassende Interpretation der Emotionalität entspricht m.E. voll der durchgehenden balladesk-impressionistischen Beseeltheit der besten Romane Fontanes wie der Ambivalenz und Gebrochenheit der Gefühle des Au­tors und seiner Figuren. Fontanes Widersprüchlichkeit (zwischen Fatalistischem, Metaphysischem und Psychisch-Realistischem, zwischen Verklärung und Au­thentizität, zwischen Internalisierung von Herrschaftsstrukturen und Sensibili­tät gegenüber abweichenden Sonderfällen) wird also tief aufgepflügt. Im Unter­schied zur marxistischen Literaturwissenschaft liegt der Hauptakzent jedoch weniger auf der Zeitkritik und den Sezessionsversuchen - einige "Siege des Realismus" werden allerdings eingeräumt -, sondern eher auf den apologeti­schen Tendenzen, auf der Verinnerlichung herrschender psychischer Strukturen. Es ist die Frage, ob solche Akzentuierung Fontane voll gerecht wird, ob dadurch

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