Daß der Terminus Interpretation ein sehr breites Spektrum von Möglichkeiten des Herangehens an den literarischen Text bietet, und zwar methodisch wie auch hermeneutisch, ist hinlänglich bekannt und keineswegs umstritten.
Dem Herausgeber dieses Bandes und seinen Autoren ist es nun gelungen, dem Leser ein Maximum an interpretatorischen Ansätzen, methodischen Wegen und Deutungsvarianten anzubieten. Allein das ist schon ein großes Verdienst! Nicht unwesentlich ist in diesem Zusammenhang auch, daß alle Beiträge in einer Diktion verfaßt wurden, die einerseits den hohen Ansprüchen eines wissenschaftlichen Textes uneingeschränkt gerecht wird, andererseits aber auch dem interessierten "Laien" den komplikationslosen Zugang zu den angebotenen Interpretationen nicht verbaut. Der Fontane-Forscher und der Fontane-Liebhaber, der Professor und der Student, der Oberlehrer und der Gymnasiast, sie alle erhalten anregende und streitbare Sichtweisen auf die Novellen und Romane Fontanes zur Selbstverständigung und zur Diskussion.
Der Ausgangspunkt des Herausgebers, umfassend und gemäß dem neuesten Stand der Fontane-Forschung einen recht großen Teil des epischen Werkes von Fontane nach aktuellen Deutungsmustern zu hinterfragen, hat mehrere Bezüge: zum einen in der deutlichen "Wandlung, die Theodor Fontanes Bild und Ruhm im öffentlichen Bewußtsein seit 1945 durchgemacht hat" (S. 7), zum anderen in der einmaligen Stellung seines Romanwerkes innerhalb der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Vor allem intendiert der Herausgeber aber eine konsequente Polemik gegen oft repetierte und interiorisierte Fontane-Klischees. Somit erweist sich der Band auch als ein polemischer Beitrag zur literarischen und literaturkritischen bzw. literaturwissenschaftlichen Imagologie.
Unter Voraussetzung dessen, daß "Fontanes Romane ein Mikrokosmos des geistigen Lebens seiner Zeit sind" (S. 10), versucht der vorliegende Band, über die textimmanente Deutung hinausgehend, die vielschichtigen Beziehungen zwischen Text, Zeitgeist, Literaturverhältnissen, Sprachreflexion, philosophischem Diskurs, konkreter politischer Situation und ästhetischer Programmatik auszuloten. Bei der Lektüre der einzelnen Interpretationen ist nachweisbar zu verspüren, daß nicht nur der Status quo der Forschung reflektiert wird, sondern in verschiedensten Bereichen der Wissensstand in Richtung auf Neuentdeckung forciert erscheint. Der Anteil des Potsdamer Fontane-Archivs wird vom Herausgeber mit einer freundlichen Geste dankend vermerkt.
Dem Fontane-Leser fällt zumindest nach dem zweiten Blick auf, daß es sich bei den einzelnen Interpretationen um eine Auswahl aus dem epischen Gesamtwerk des großen Romanciers handelt. So finden wir nicht , Ellernklipp, Graf Petöfy Cecile, Stine, Unwiederbringlich und Die Poggenpuhls. In Anbetracht des sehr eigenwilligen Romans Unwiederbringlich ist das auf jeden Fall zu bedauern. Sonst ergibt die Auswahl der zu interpretierenden Texte eine nachvollziehbare innere Logik und ist dazu angetan, einen umfassenden Einblick in alle Facetten der Fontaneschen Epik zu erhalten. Die Abfolge der Interpretationen entspricht der Werkchronologie.
Den Auftakt der Einzelinterpretationen bildet die Untersuchung von O. Keiler zu "Vor dem Sturm. Das große Gefühl der Befreiung und die kleinen Zwecke der Opposition". Der Verf. setzt sich eingangs vehement mit der Integration des Schriftstellers Fontane in den Mythenkanon "Preußen" mit all seinen Pervertierungen auseinander und stellt die grundsätzliche Frage: "Kann uns Theodor
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