Heft 
(1992) 53
Seite
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sich selbst und für alle Einwohner. Einem Einheimischen hat der Westschnaps die Zunge gelöst, und er hebt an zu erzählen. Er erzählt die Geschichte und die Geschichtchen seines Ortes. Zwar kommen auch Napoleons Soldaten darin vor, doch im wesentlichen ist es die Geschichte unseres Jahrhunderts mit seinen wechselnden Obrigkeiten. Es ist unmöglich, ihn zu unterbrechen; sein Monolog ist wie ein Sturzbach. Folgerichtig ist die ganze Erzählung ein einziger Satz, nur Kommas, Absätze und nach 79 Seiten der Punkt. Es ist eine Chronik, aber eine Chronik ohne Chronologie. Das Reden dieses namenlosen Bauern springt zu­rück in die Zeit unter dem Junker vor vielleicht siebzig, den Nazis vor fünfzig und den jüngsten Herrschern vor drei oder vor zwanzig Jahren. Er tippt ein Thema an, wechselt die Zeit, kehrt ausführlicher werdend dorthin zurück, um die Ebene erneut zu wechseln. Gerade hat der Leser sich an Begriffen, wie "Gutsherr" oder "LPG" orientiert, ist der Erzähler schon anderswo.

Diese Irritation läßt die Grenzen zwischen den einzelnen Etappen deutscher Geschichte zerfließen, die wir uns doch angewöhnt haben separiert, als "Kaiser­zeit" oder "Drittes Reich" etwa zu betrachten. Es entsteht eine neuartige Zusam­menschau deutscher Geschichte in unserem Jahrhundert, und das aus einem neuartigen Blickwinkel, von einem Fünfhundert-Seelen-Dorf namens Ribbeck aus gesehen. Alle Rückblicke haben ihren Ausgangspunkt nach der deutsch­deutschen Vereinigung in den neuen Bundesländern, und dorthin finden sie immer wieder zurück. Der das beschreibt, ist Westberliner, und die Perspektive, die er wählt, ist ostdeutsch. Nach den Erfahrungen eben dieser Gegenwart durf­te man skeptisch sein, ob ein "Westler" sich überhaupt in einen DDR-Bürger einfühlen kann, hier noch dazu ein Städter in einen Dörfler.

Die Hauptfigur ist der vom Lauf der Ereignisse überrollte "Ostler", der sich und seine Sprache zu finden beginnt zwischen der unverarbeiteten Vergangenheit, der irritierenden Gegenwart und einer ungewissen Zukunft. Er hatte geschwie­gen, "weil über jedem dritten Bier einer Ohren machte" (S. 14). Er ist noch lange nicht fertig mit dem, was da war: Erst "neulich kam es heraus: wer und wer nicht die Berichte weitergab nach Nauen, Potsdam, Berlin, fünfzehn Spitzel auf fünfhundert Einwohner" (S. 14). Er bräuchte noch Zeit, um nachzudenken und abzurechnen mit unfähigen Funktionären, die mit ihren Weisungen das Land ruinierten und damit, "im Land der Hosenscheißer selber Hosenscheißer" ge­wesen seien (S. 39). Gleichzeitig sind schon bedrohliche neue Probleme da, wenn die alten Besitzer kommen, "die sich in Bügelfaltenhosen und hellen Mänteln breitbeinig vor die Häuser stellen, mit gierigem Blick und blitzendem Zollstock über den Putz fahren und mit der Videokamera aufzeichnen und mitnehmen, was wir hergerichtet haben zwanzig Jahre lang, für ein Brett eine Stunde ange­standen, jeder Wasserhahn ertauscht" (S. 11).

Es ist der knappe, den Gedankenfaden immer wieder zerreißende und aufneh­mende Erzählstil, der es möglich macht, alle diese Zeitthemen aufzugreifen, ohne in Details gehen zu müssen, über die der Autor einfach nicht verfügen, die er nicht wissen kann.

F.C. Delius legt das erste literarische Werk zur gerade erst vollzogenen deut­schen Einheit vor und wirkt erstaunlich überzeugend dabei. Wieder hat es einer "von drüben" geschafft und bestätigt so die Worte, die er seiner erdachten Figur zuschreibt: "und immer seid ihr einen Takt schneller und einen Schritt voraus

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