darin angelegte Kritik trifft den moralischen und verhaltensmäßigen Rigorismus des gesellschaftlichen und staatlichen Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das dem Menschen die Entfaltung seiner natürlichen Spontaneität nicht gestattet, sondern Konformismus und die Abtötung des Herzens zugunsten gesellschaftlich sanktionierter Gebote erzwingt. Aber sie zielt auch auf eine im Menschen angelegte Grundspannung zwischen Gesellschaft und Individuum, die sich, wie vor allem in Ellernklipp ausgeführt wird, im Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament spiegelt. Das erstere besteht auf Vergeltung, das letztere predigt Vergebung, aber während diese das menschlich Höhere ist, kann nur jene die Basis einer gesellschaftlichen Ordnung abgeben. So muß das Individuum um des funktionierenden Gemeinwesens willen Verzicht, Demütigung und Strafe hinnehmen. Daß die preußische Gesellschaft seiner Zeit dieses Prinzip weit über das Maß des Notwendigen hinaustrieb, die Entfaltung des Menschen verhinderte und starre soziale Schranken aufrichtete, stieß auf Fontanes scharfe Kritik. Sie wirkt umso überzeugender, als die leidenden Protagonisten seiner Romane meist den tragenden Schichten des Staates angehören. Das menschlich Bewegende und intuitiv Erfaßte solcher Einzelschicksale und die scharfe Analyse ihrer gesellschaftlichen Existenz ergeben das Typische an Fontanes Romanen."
S. 146f. "Fontanes Zeitromane stellen innerhalb der deutschen Literatur den geistig tiefsten und dichterisch geformtesten Kommentar zu Preußen-Deutschland zwischen der Reichsgründung und der Jahrhundertwende dar und entsprechen damit dem, was in der Philosophie Friedrich Nietzsche leistete. Fontane erkannte diese Epoche immer stärker als 'Zeit des Scheins und der Phrase' (an Maximilian Ludwig, 21. Januar 1890). Der Schriftsteller, der dabei allerdings entsprechend den Maximen des poetischen Realismus und den Gesetzen des Gesellschaftsromans die Arbeitswelt und die untersten Gesellschaftsschichten weitgehend aussparte, enthüllt die Brüchigkeit der bestehenden hierarchischen, patriarchalischen und autoritäten Gesellschaftsordnung im Signifikaten Einzelfall, der zum Paradigma gesellschaftlicher Probleme wird und mit diesen unlösbar verschmolzen ist. Kein anderer deutscher Romancier der Zeit bringt soviel zeittypisches Detail, soviel Zeitatmosphäre und soviel zeitcharakteristisches Sprachmaterial in sein Werk ein. Fontanes Romane sind ein kritisches Kompendium wilhelminischen Geistes und Geschmacks, preußischen Lebens und Selbstverständnisses.
Während Fontane dabei in der Ober- und Unterschicht sympathische menschliche Exemplare fand, war sein Verdikt über die geistlose, geldgierige Bourgeoisie unerbittlich. Lebensweisheit verkörpern häufig die alten Landadligen, Pastoren und Ärzte, die um die Gnadenlosigkeit sozialer Schranken, gesellschaftlicher Zwänge und moralischer Gebote wissen und ihnen im Privaten durch Menschlichkeit und Toleranz gegenzusteuern versuchen."
Rechtfertigen diese Passagen Giels Urteil?
7. Giel wirft mir vor, mein Fontanebild gerate durch die Einschätzung, das
Romanwerk des Dichters "bringe den poetischen Realismus auf den Höhepunkt", "in Schieflage". Was ich mit dem Stichwort "poetischer Realismus" 133