Heft 
(1992) 53
Seite
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darin angelegte Kritik trifft den moralischen und verhaltensmäßigen Ri­gorismus des gesellschaftlichen und staatlichen Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das dem Menschen die Entfaltung seiner natürlichen Spontaneität nicht gestattet, sondern Konformismus und die Abtötung des Herzens zugunsten gesellschaftlich sanktionierter Gebote erzwingt. Aber sie zielt auch auf eine im Menschen angelegte Grund­spannung zwischen Gesellschaft und Individuum, die sich, wie vor allem in Ellernklipp ausgeführt wird, im Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament spiegelt. Das erstere besteht auf Vergeltung, das letztere pre­digt Vergebung, aber während diese das menschlich Höhere ist, kann nur jene die Basis einer gesellschaftlichen Ordnung abgeben. So muß das Individuum um des funktionierenden Gemeinwesens willen Verzicht, Demütigung und Strafe hinnehmen. Daß die preußische Gesellschaft sei­ner Zeit dieses Prinzip weit über das Maß des Notwendigen hinaustrieb, die Entfaltung des Menschen verhinderte und starre soziale Schranken aufrichtete, stieß auf Fontanes scharfe Kritik. Sie wirkt umso überzeugen­der, als die leidenden Protagonisten seiner Romane meist den tragenden Schichten des Staates angehören. Das menschlich Bewegende und intui­tiv Erfaßte solcher Einzelschicksale und die scharfe Analyse ihrer gesell­schaftlichen Existenz ergeben das Typische an Fontanes Romanen."

S. 146f. "Fontanes Zeitromane stellen innerhalb der deutschen Literatur den geistig tiefsten und dichterisch geformtesten Kommentar zu Preu­ßen-Deutschland zwischen der Reichsgründung und der Jahrhundertwen­de dar und entsprechen damit dem, was in der Philosophie Friedrich Nietzsche leistete. Fontane erkannte diese Epoche immer stärker als 'Zeit des Scheins und der Phrase' (an Maximilian Ludwig, 21. Januar 1890). Der Schriftsteller, der dabei allerdings entsprechend den Maximen des poetischen Realismus und den Gesetzen des Gesellschaftsromans die Ar­beitswelt und die untersten Gesellschaftsschichten weitgehend aussparte, enthüllt die Brüchigkeit der bestehenden hierarchischen, patriarchalischen und autoritäten Gesellschaftsordnung im Signifikaten Einzelfall, der zum Paradigma gesellschaftlicher Probleme wird und mit diesen unlösbar ver­schmolzen ist. Kein anderer deutscher Romancier der Zeit bringt soviel zeittypisches Detail, soviel Zeitatmosphäre und soviel zeitcharakteristi­sches Sprachmaterial in sein Werk ein. Fontanes Romane sind ein kriti­sches Kompendium wilhelminischen Geistes und Geschmacks, preußi­schen Lebens und Selbstverständnisses.

Während Fontane dabei in der Ober- und Unterschicht sympathische menschliche Exemplare fand, war sein Verdikt über die geistlose, geldgie­rige Bourgeoisie unerbittlich. Lebensweisheit verkörpern häufig die alten Landadligen, Pastoren und Ärzte, die um die Gnadenlosigkeit sozialer Schranken, gesellschaftlicher Zwänge und moralischer Gebote wissen und ihnen im Privaten durch Menschlichkeit und Toleranz gegenzusteuern versuchen."

Rechtfertigen diese Passagen Giels Urteil?

7. Giel wirft mir vor, mein Fontanebild gerate durch die Einschätzung, das

Romanwerk des Dichters "bringe den poetischen Realismus auf den Höhe­punkt", "in Schieflage". Was ich mit dem Stichwort "poetischer Realismus" 133