jener Erzählung einem bloßen Zufall aus dem Wege gehe..." Es wird überlegt: „Spricht jener von Bülow am Ende das Urteil des Autors?" Die Klasse will in dem politikinteressierten Bülow nur den raisonnierenden „Knallkopp" sehen, mit der Liebesgeschichte können sie sich leichter identifizieren. Für ihn wird im preußischen Offizierskorps die Ehre durch Dünkel ersetzt: „Da haben Sie das Wesen der falschen Ehre," und er resümiert: „Wir werden an derselben Welt zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist." Die Frage nach dem Titel der Novelle bringt Licht in Fontanes Absichten. Der Dichter hat - wie ein Brief belegt - zunächst andere Titel geplant: 1806. Oder: Vor Jena. Oder: Et dissipati sunt (Und sie sind verschwunden). Oder: Gezählt, gewogen und hinweggetan. Oder: Vor dem Niedergang (Fall, Sturz). Er verwarf sie alle - warum? „Was hatte die Elf A Zwei für die endgültige Wahl des Titels anzuzeigen?" Hinweise auf Zeitgeschichte, Preußenkritik, eigenes Urteil würden den Leser gängeln. „Fontane wünscht sich seine Leser unabhängig." So belehrt Weserich seine Schüler. So muß es auch dem Leser von heute erlaubt sein, mit weiteren Fragen zu anderen Ergebnissen zu kommen: Wem gibt Fontane denn endlich das allerletzte Wort? Es ist Victoire! Fontane - er steht auf der Seite des Lebens und der Hoffnung: In einer Welt des Scheins und des Zerfalls geht das wahre Leben weiter, still und unbeachtet. In Rom zieht Victoire ihr Kind auf, ein Stück Zukunft. Sie tut es nicht als verlassene, resignierende Frau, nein, als glückliche, dankbare Mutter. Sie darf nach dem Willen des Dichters die letzte Zeile des Schach von Wuthenow schreiben: „Auf diesem Altar steigt tagtäglich das Opfer meines Dankes auf." Fontanes Erzählung schließt mit einem Dankgebet. Das durfte Weserichs Klasse nicht finden.
Durch intensive Arbeit haben Lehrer und Schüler gemeinsam ein Stück deutsche Literatur verständlich und lebensnah gemacht. „Nun sollte es anfangen mit dem Genuß und der Freude, eine Erzählung von Th. Fontane aus dem Jahr 1806 noch einmal und wieder zu lesen." Doch daraus wird nichts mehr, der großartige Unterrichtsversuch endet mit einem Fiasko. Hatte vielleicht Dieter Lockenvitz auf eine interessante weiterführende Diskussion gehofft? Ganz sicher war es nicht seine Absicht gewesen, den verehrten Lehrer hereinzulegen. Er bringt eine Zeitschrift in die Schule mit: „Sinn und Form" - „die Botschaft der ostdeutschen Staatskultur an den Rest der Welt." In Nummer 2 steht ein Aufsatz über Schach von Wuthenow. Aus den fünfzig Seiten zitiert Johnson, zitiert Gesine Cresspahl aus ihrer Erinnerung nur dies: die Erzählung sei ein „Geschenk des Zufalls". Die darin geübte Kritik am preußischen Wert sei „absichtslos", sei „unbewußt". Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Klassengemeinschaft erkannt hatte. Für Weserich ist das ein Schmerz. Für die Schach-Lektüre ist es das Aus. Was konnte man tun? Hätte der Leipziger Doktorand sich einlassen sollen auf ein Duell „zwischen einer Schulklasse in Mecklenburg und einem Großdialektiker" in Berlin-Ost? „Schach" wird abgesetzt. „Der Ofen war aus; das Ei kaputt; das Gericht gegessen." Ein vertrautes Miteinander von Lehrer und Schülern kommt nicht wieder zustande. Grenzgänger - so oder so - werden sie alle: der Lehrer, die Schülerin, der Autor. Uwe Johnson verläßt die DDR, ist bald in West-Berlin, bald in USA, bald in England; dort stirbt er 1984 einsam auf einer Themse-Insel. Seine Gesine geht aus Mecklen- 126