werden wenigstens sieben namentlich genannt, es sind zwar erfundene, aber doch lebende Personen. Sie äußern sich zum Stoff je nach ihrer Wesensart oder schweigen auch; sie lernen dazu, ändern ihre Einstellung im Lauf der Lesemonate.
Saidschik der Haase bereut längst seine „ollen Kamellen". Anita gibt, durch die Problematik der Fontaneschen Liebesgeschichte betroffen, Innerstes preis - respektiert von der Klasse, die bei Eva Matschinski vielleicht gelacht hätte: Ehre - und ein guter Mensch sein: gehört das nicht zueinander? Lise Wollenberg, Pius Pagenkopf kommen zu Wort. Es ist eine ganz reale Klasse.
So real wie die Klassengemeinschaft ist die Zeitgeschichte, die ja auch sonst in Uwe Johnsons Werken nicht außer Sicht bleibt. In Gesines Erinnerung ist das Jahr 1950/51 ein Jahr des Koreakrieges, das Jahr von Picassos zweiter Friedenstaube, aber auch die Zeit der Petticoat-Mode, der westlichen Geschenkpakete, der Reiseverweigerungen, der Westberlinreisen („vor der Mauer" noch möglich). So wird notgedrungen der Praktikant Weserich Kompromisse mit der Staatsideologie schließen müssen. Das Sozialkritische gehört hier unbedingt in eine Deutschstunde. Die sommerliche Schlittenfahrt auf dem Salzeis bietet dazu Gelegenheit, die Gespräche der Offiziere darüber, was „mit dem beschmutzten, dem kostbaren Gewürz" nachher zu geschehen habe: die Domestiken werden es sich holen, die Kanaille, wie der jüngste Kornett sich auszudrücken beliebt. Glatteis-Themen werden geschickt übergangen - und sind doch für die Siebzehnjährigen unüberhörbar. Von Lokalen, darin ihm „Aufpasser und Kellner die Kehle zuschnüren", weiß von Bülow zu reden - schon damals also! Auch heute feiert man nicht gerne in öffentlichen Lokalen. Ob die Ehe zwischen Staat und Kirche wirklich „unausweichlich" sei, darüber hätten die Schüler wohl ganz gern diskutiert - aber Weserich ruft sie in den zeitlichen Rahmen der Fontane-Erzählung zurück. „Ein ideologischer Revisor auf der Durchreise hätte gut und gern bei uns hospitieren dürfen oder uns vernehmen in Weserichs Abwesenheit: seine Laufbahn wäre davongekommen ohne Schaden."
Als die Klasse genug hat von dem „Drückeberger" Schach - es ist April 51, man steckt jetzt im 14. Kapitel, ist schon mit ihm in Wuthenow -, lenkt Weserich das Interesse auf Theodor Fontane als Autor. Wie macht er das eigentlich, wie führt er seinen Helden ein? In der letzten Zeile des ersten Abschnitts kommt Schach erstmalig vor, aber abwesend und namenlos. Die Klasse findet heraus: Er bleibt unsichtbar über 130 Seiten hinweg. Nur aus den Beobachtungen und Urteilen der redenden Personen kann man auf Wuchs, Haltung, Charakter schließen. Mit dem Namen spielt Fontane: „Schach" ist der „Schah" im Harem, zwischen zwei Frauen! Macht es nicht Johnson ähnlich so? Nennt er nicht eine ungeliebte Lehrerin „Selbich", den wesensverwandten Praktikanten „Weserich"? Die frage wird erörtert: Wer ist der Erzähler in Fontanes Novelle? Weiß er alles über seine Personen, war er überall dabei? Was erzählt er, was nicht? Die Lie- besszene läßt er nur erraten durch das „Du" („Was erregt dich?"); bezeichnend, daß Victoire beim „Sie" bleibt („Verlassen Sie mich!"). Das Doppeldeutige dieser Bitte wird im Unterricht nicht aufgegriffen, doch darf wohl auch der heutige Leser weiterdenken. „Wenn man einmal erwägen wolle, daß der Verfasser
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